Medizinische Hilfe Rio Quiquibey: Dezember 2008
Es ist Ende November 2008. Zwei Wochen Volontariat sind bereits vergangen. In dieser Zeit arbeitete und lebte ich in Buena Vista, einer kleinen Communidad unweit von San Buenaventura. An die hiesigen Gegebenheiten wie Mentalität, Klima oder hygienische Tatsachen konnte ich mich in den vergangenen zwei Wochen in aller Ruhe gewöhnen. Durch die Arbeit mit Santos, dem Krankenpflegehelfer von Buena Vista konnte ich mich auch schnell mit dem medizinischen Versorgungssystem Boliviens vertraut machen.
Ein Umdenken, speziell was das Niveau der praktizierten Medizin betrifft war aufgrund fehlender finanzieller Mittel vom ersten Tag an erforderlich. Für mich, als angestellte Ärztin eines deutschen Krankenhauses heißt das vor allem, mich deutlich mehr auf meine klinischen, intuitiven Fähigkeiten zu verlassen, zu improvisieren und einer angepassten Basisversorgung gegenüber diffizilen diagnostischen Überlegungen den Vorrang zu gewähren.
Diese Art der Medizin kann einerseits frustrierend, andererseits aber auch unglaublich befriedigend und dankbar sein.
Als nächster Punkt auf meinem Einsatzplan steht die Quiquibeytour, eine medizinische Versorgungsfahrt auf dem Rio Quiquibey, ein Zufluss des Rio Beni nahe San Buenaventura, am westlichen Ende des Amazonasbeckens.
Quiquibey 1. bis 6. Dezember 2008
Jacqueline Pflug, Leiterin des Vereines Medizinische Hilfe Bolivien e.V. und Dr. Handy Romer, ebenfalls angestellt beim Verein bereiteten alles perfekt vor. Orts- und Personenkenntnis sind von essentieller Wichtigkeit um überhaupt an das erforderliche Equipment heranzukommen.
Am Morgen des 01.Dezember ist es soweit das Boot ist voll bepackt, auch das Benzinproblemchen bei derzeit fehlender Zulieferung für die Region konnte in letzter Minute noch gelöst werden.
An Bord: Dr. Handy Romer - Allgemeinmediziner, Dr. Jose Manuel Zahnarzt, Dandy und Carlos - zwei Krankenpfleger, die Bootsbesatzung Mindo und Roman, welche später auch als Übersetzer der indianischen Sprachen fungierten, Marie die Köchin und ich.
Zunächst geht es einige, landschaftlich wunderschöne Kilometer den Fluss hinauf. Noch am ersten Tag wird Sprechstunde in zwei Dörfern abgehalten. Diese Dörfer sind noch sehr zivilisationsgeprägt, es gibt einige Stunden am Tag Strom und eine Schule mit betoniertem Boden, in welcher wir arbeiten dürfen. Die Bewohner sprechen noch spanisch, so dass die direkte Arzt- Patient- Kommunikation kein Problem darstellt.
Medizinische Probleme sind oft infektiöser Natur. Infektionen der Luftwege, teils mit schweren Lungenentzündungen sowie viele bakteriell oder mykotisch bedingte Hautläsionen meist bei Kindern, stehen ganz oben auf der Rangliste. Ebenfalls häufig vertreten sind degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen aufgrund lebenslanger schwerer Arbeit auf dem Feld und im Wald. Außerdem gibt es eine immense Anzahl von Parasitosen, besonders bei Kindern. Wir befinden uns in den südamerikanischen Tropen und so überrascht es nicht, dass uns auch mehrfach kutane Leishmaniase begegnet.
Weiterhin zeigen sich u.a. kleine oder auch größere Verletzungen, gynäkologische Krankheiten, Magenbeschwerden und selten Malignomverdachte.
Je weiter wir den Fluss hinauffahren, desto weiter entfernen wir uns natürlich auch von der nach unserem Verständnis - Zivilisation. In einigen Communidades wird ausschließlich Tsimane oder Mosetene, indianische Sprachen, gesprochen. Hier erweist sich für uns die Übersetzungsarbeit von Mindo und Roman als unerlässlich.
Die Häuser sind aus dem gemacht was sich in der nächsten Umgebung anbietet, es findet sich kein einziger Nagel, der Boden ist aus fester Erde. Die Nahrung besteht aus Feldfrüchten (u.a. Reis, Platanos, Papaya), Fisch, Huhn und Jagderträgen. Für den ersten Moment hört sich das ganz gut an, auf die Dauer aber ist Mangelernährung nicht selten. Es fehlt an Vitaminen.
Anfänglich finden sich noch hier und da Wasserhähne in den Dörfern, die abgelegeneren Communidades nutzen ausschließlich und direkt das Flusswasser.
Für mich erschreckend waren teilweise die hygienischen Umstände. Es kam vor, dass ich ein Huhn aus dem Bett verjagen musste, in dem ich eine Frau untersuchen wollte. Kleinkinder urinieren manchmal auf den Boden, auf dem sie gerade sitzen, z.B. in der Schule oder in der Küche. Einmal wurde ich Zeuge wie direkt danach die Hand in die Pfütze und von dort in den Mund wanderte die Mutter daneben sitzend und teilnahmslos zusehend. Mitunter macht die Kleidung den Eindruck, seit Wochen nicht gewechselt worden zu sein.
Auch gibt es kleinere offene Wunden, z.B. durch Kratzen nach Insektenstichen. Unzählige Fliegen folgen natürlich dieser leckeren Einladung und der Infektion wird der Weg geebnet. Das Kind kratzt weiter an der inzwischen eitrigen Wunde, die Finger greifen danach z.B. nach einer Mango, die dann angelutscht wird. Eine Verkettung von hygienischen Unpässlichkeiten die letztendlich zu schwersten Erkrankungen und im Kindesalter auch zum Tod führen kann.
Einmal haben Handy und ich einen eitrigen Abszess am Kopf eines kleinen Mädchens gespalten. Die Farbe der Kleidung des Mädchens war vor Dreck kaum erkennbar (vermutlich gelb). Es verwundert nicht, dass unter diesen Umständen derartige Infektionen auftreten.
Das Bewusstsein für Sauberkeit ist unterschiedlich ausgeprägt. Einerseits hängt es anscheinend von den Familiengepflogenheiten ab, andererseits gibt es generell bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Dörfern, obwohl sie oft nur wenige Kilometer auseinander liegen.
Ganz offensichtlich sind etliche vor allem Hautkrankheiten und Parasitosen den hygienischen Umständen geschuldet. Die Kinder von Familien, denen man ein Sauberkeitsbedürfnis anmerkt sind deutlich weniger krank.
Unser medizinisches Equipment steckt in drei Kisten und zwei Taschen. Diese werden zügig leichter, vor allem Schmerzmittel, Antiparasitosemittel und Antibiotika sind hier vonnöten.
Um das Übel dauerhaft an der Wurzel zu packen wären allerdings in erster Linie Hygienemaßnahmen sinnvoll. Eine Hygienekampagne..?!? Hm. Einen Versuch wäre es wohl wert, allerdings mit zweifelhaften Erfolgsaussichten weil es sicher sehr schwierig ist ein nachhaltiges Interesse dafür ist zu wecken.
Während Handy und ich Sprechstunde abhalten, zieht Jose Manuel Plong einen Zahn nach dem anderen. Selbstverständlich im selben Raum. Schon im Jugendalter ist der Faulprozess der Zähne aufgrund von Karies in vollem Gange. Hier im Dschungel bleibt nur die Extraktion um Schmerzen zu lindern und schlimmeres, wie eine Kieferinfektion, zu vermeiden. Außerdem verabreichen Dandy und Carlos, die Krankenpfleger, unzählige Impfungen bei Kleinkindern, v.a. Polio und Tetanus. Die Kinder werden generell auch gewogen und gemessen.
Immer sind bei unserer Arbeit viele Menschen und Tiere anwesend, Privatsphäre bei den Untersuchungen oder bei der Verabreichung von Spritzen gibt es nicht, scheint den Patienten aber auch nicht wichtig zu sein.
Nur für Schwangere oder Frauen mit gynäkologischen Problemen haben wir in der Regel um einen separaten Untersuchungsraum, meist die Behausung der Patientin, gebeten.
Neben der Versorgung der Dorfbewohner gingen Dandy und Carlos noch einer ganz anderen Mission nach einer Tollwutkampagne bei Haustieren. Der Impfstoff wurde mit in die Dörfer genommen und soweit aufspürbar alle Hunde, Katzen und Affen geimpft. Auch ich habe mit geholfen und zum ersten Mal Tieren eine Spritze verpasst. Man wächst eben mit seinen Aufgaben
Diese Maßnahme ist sehr sinnvoll, da es in letzter Zeit durch Tollwut mehrfach zu Todesfällen bei Mensch und Tier kam.
Nach der Visite in den Dörfern ging es wieder ins Boot, Mindo und Roman unsere Bootsbesatzung - erwiesen sich als unglaublich fähig, das Gefährt durch Stromschnellen, an umgefallenen Bäumen vorbei und durch Untiefen zu manövrieren. Für das wenige Wasser, was der Rio Quiquibey derzeit führt können sie nichts und so hieß es für alle Insassen unzählige Male aussteigen und Boot schieben. Dann wieder rein ins Boot erneut aufgesetzt weiter schieben. Manchmal stundenlang. Um das nächste Dorf dann zu versorgen haben wir mit vereinten Kräften nach dem Anlegen sämtliches Medizinequipment aufgeschultert, die Uferböschung damit rauf, folgend meist ein kurzer Urwaldmarsch bis zu dem Ort wo wir auf unsere Patienten trafen. Das alles bei unglaublicher Hitze und gefühlten 200% Luftfeuchtigkeit. Die Mosquitos surren nachts vor dem Mosquitonetz wie heulende Wölfe.
Einmal war es wirklich unmöglich mit dem Boot einer Wurzel im Fluss auszuweichen und so wurden in sekundenschnelle Teile der hölzernen Verankerung des kleinen Daches weggefetzt. Hui ein ordentlicher Schreck! Vorerst konnte das Dach notdürftig repariert werden, jetzt nach der Tour sind aber leider größere Wiederherstellungsmaßnahmen vonnöten.
Die Tour hatte also neben der medizinischen Arbeit auch einen hohen Anspruch an die körperliche Leistungsfähigkeit aller Teilnehmer. Glücklicherweise hatten wir ja unsere Marie die Köchin - dabei, die uns wunderbar versorgte. Übernachtet wurde in den Communidades - in der Schule, oder die Mosquitonetz wurden einfach unter einem Dach aufgespannt.
Die beeindruckende, fantastische, bezaubernde Landschaft um uns herum lies mich manche Anstrengung unmittelbar vergessen. Schließlich befanden wir uns im Territorium des Nationalparks Madidi, der durch seine Schönheit und Artenvielfalt weithin bekannt ist.
Am letzten Tag besuchten wir noch Erwin, ein Österreicher - um die 70 Jahre alt, welcher seit 30 Jahren im Dschungel lebt. Wir wollten einfach nach dem rechten sehen und fanden den freundlichen Mann lachend und bei bester Gesundheit während der Arbeit an den Pflanzen vor. Er freute sich sichtlich über unseren Besuch.
Die Quiquibeytour und überhaupt die Arbeit hier im Amazonasbecken sind für mich Erfahrungen von unschätzbarem Wert. Man muss sich nach einer Mission erstenmal Zeit nehmen alles zu verarbeiten bevor man zum nächsten Einsatzpunkt aufbricht.
Ich danke herzlich allen Mitgliedern von Medizinische Hilfe Bolivien e.V. teils auch unbekannterweise, durch den Verein an solchen Projekten teilnehmen zu dürfen.
Dr. med. Nadja Zillinger