Medizinische Hilfe Rio Quiquibey: Mai 2008

Durch die viele Förderer, Spender und Unterstützer konnte der Verein Projekt Regenzeit e.V. 60 Prozent der notwendigen Finanzen zu Durchführung der zweiten medizinischen Versorgungsexpedition in das Gebiet der Tsimane und Mosetene aufbringen. Hier der dazu gehörenden Bericht – diesmal geschrieben von Bianca Fries, Mitglied im Verein "Medizinische Hilfe Bolivien e.V."

Das Motiv für meine Reise nach Bolivien war
· meinen besten Freund Tim incl. seine Familie Jacqueline und Alejandro zu besuchen
· die Arbeit und die Projekte zu begleiten, um in Deutschland darüber berichten zu können.

Mein Flug nach Bolivien startet am 10.05.2008 von Düsseldorf und endet 35 Std. später in La Paz. Endlich hat die Anspannung ein Ende, die seit Sao Paolo auf mir lastet und ich werde von Tim in Empfang genommen. Dies war erst der zweite Flug in meinem Leben und ich habe ihn tatsächlich alleine überstanden.
In Gegenwart von Tim kann ich mich wieder sicher fühlen, denn Englisch hilft in Südamerika mehr schlecht als recht und mit meinen paar Worten Spanisch kann ich mich leider nicht verständigen!

In La Paz warten 4° C Kälte auf mich - unerwartet! Heizungen in den Wohnhäusern sind hier Fehlanzeige. Die Höhenluft von ca. 4.000m spürt man ebenfalls direkt. Am nächsten Tag bekomme ich den ersten Einblick in eine aufregende, chaotische Stadt: La Paz! Von El Alto aus hat man eine grandiose Aussicht über die riesige, in einem Talkessel liegende Stadt. Mit einem Wort zu beschreiben: eindrucksvoll - ich bin in einer anderen Welt angekommen. Auf den Straßen herrscht ein Verkehrschaos, in dem einem anfangs fast "angst und bange" wird. Was sind schon rote Ampeln und Polizisten, die stehen doch nur im Weg - die Hupen haben hier das Sagen! Hier will man selbst lieber kein Auto fahren. Das Erscheinungsbild der Menschen ist auch völlig fremd, viele Frauen in traditioneller Kleidung. Alle paar Schritte kann man irgendetwas kaufen, alles gibt es hier in Tüten, sogar Suppen und Getränke.

Am nächsten Tag starten Tim, Jacqueline, Alejandro und ich zu meinem eigentlichen Ziel 480 km nördlich von La Paz: San Buenaventura. Mit einer kleinen Militärmaschine geht es über die Anden - riesige schneebedeckte Gipfel, danach nur noch Wolken bis zum Landeanflug. Dann endlich der lang ersehnte Regenwald soweit das Auge reicht und der Rio Beni! Wieder fehlt mir fast die Luft zum Atmen, so überwältigend ist der Anblick. Tim fragt unterdessen mehrmals:"Siehst Du schon die Landebahn?" Äh, welche Landebahn?? Oder meint er die Wiese - das einzig freie Stück ohne Bäume?? Die Frage beantwortet sich schnell von selbst, schon setzen wir auf. Und wieder wartet eine neue Welt auf mich! Einfache Häuser: Ziegelsteinbauten oder Bambus- bzw. Bretterhütten, geteerte Straßen sind kaum zu finden. Überall wimmelt es von Motorradtaxis. Nahezu alles wird hier mit Motorrädern transportiert, incl. meiner Koffer. Die Menschen tragen einfache, meist schmutzige Kleidung, was in Anbetracht der staubigen Straßen nicht verwunderlich ist. Ab ca. 02:00 Uhr nachts fehlt der Strom, fließend Wasser gibt es auch nicht immer. Mein erster Gesamteindruck: eine arme Gegend, aber ich werde später, beim Projekt Quiquibey eines Besseren belehrt, was Armut wirklich heißt. In San Buenaventura und Rurrenabaque bekommt man doch alles, was man zum Leben braucht.

Tim stellt mir Dr. med. Handy Romer Quispe, unseren Arzt und Dr. med. dent. José Manuel Artieda, unseren Zahnarzt vor. Ich werde sehr herzlich begrüßt und aufgenommen. Überhaupt sind alle Menschen hier sehr freundlich und hilfsbereit, sofort fühle ich mich wohl!

In der nächsten Woche lerne ich alles kennen und wir kümmern uns hauptsächlich um das Projekt Zahnarztpraxis, das schon gut fortgeschritten ist. Ein schöner, ca. 25m² großer Bau, grün-weiß gestrichen, direkt neben dem Wohnhaus unseres Zahnarztes. Wir befestigen Fliegengitter, streichen und schneiden Leisten und bereiten den Boden vor zum Fliesenlegen. Die Fliesenauswahl darf ich in Rurrenabaque selbst treffen. Die bestellte Innenausstattung der Praxis hängt leider noch am brasilianischen Zoll fest und soll Ende Juni eintreffen.

Zwei Wochen später begleite ich Jacqueline und José Manuel bei der Zahnhygiene und Aufklärung. In zwei Dörfern wird den Schulkindern anhand von Bildmaterial das Zähneputzen erklärt und gezeigt. Die Kinder arbeiten begeistert mit und haben sichtlich Spaß am Test mit den Zahnfärbetabletten, die den Zahnbelag rot oder blau färben. Beim Blick in den Spiegel sind die Kleinen kaum noch zu bremsen. Jedes Kind bekommt eine Zahnbürste geschenkt und im Anschluss werden gemeinsam mit Jacqueline und José Manuel Zähne geputzt. Die Beiden arbeiten liebevoll mit der ganzen Gruppe und zeigen jedem Kind genau das, was wichtig und richtig ist. Ein wirklich sinnvolles und schönes Projekt, bei dem es Spaß macht, zu sehen, wie engagiert die Kinder mitarbeiten. Parallel hierzu werden die Erwachsenen der Dörfer - in Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus Ixiamas - über Verhütungsmittel, Familienplanung, Gewalt innerhalb der Familie und Hygiene zur Vermeidung von Krankheiten aufgeklärt.

Nun zum größten Projekt, dass ich während meines Aufenthaltes begleiten durfte: 7 Tage Rio Quiquibey! 12 Dörfer, die meisten extrem abgelegen, werden medizinisch und zahnmedizinisch versorgt. Der Großteil der Bewohner hat noch nie ein Krankenhaus von innen gesehen oder wurde schon einmal ärztlich behandelt. Wir bereiten die Reise vor und stellen das Team zusammen. Wie es jedoch in Bolivien Alltag ist, tauchen unerwartet Probleme auf: ein wichtiges Teammitglied sagt am letzten Tag vor der Reise ab. Nach einigem Hin und Her ist auch dieses Problem beseitigt und unser Team steht.

10 Personen werden das "Abenteuer" antreten:

  • 1 Bootsfahrer und Parkwächter
  • 1 Krankenschwester vom Hospital Rurrenabaque
  • 1 Mitarbeiterin der Caritas
  • 1 Zahnärztin
  • 1 Gehilfe
  • 1 Mitarbeiter der OPS (Unterorganisation der WHO)
  • unser Zahnarzt José Manuel
  • unser Arzt Handy
  • Tim als Organisationsleiter und Vorsitzender der AMEPBO und ich

Endlich ist alles vorbereitet, Benzin organisiert, das Boot beladen und es geht los. 07:00 Uhr Treffen im Hafen, Nebel liegt noch zwischen den Bergen und bei der Fahrt durch diese unglaublich herrliche Landschaft fühle ich mich wie in einem Traum! Ich genieße die Fahrt sehr und bin äußerst gespannt, was mich alles erwartet.

Nach einiger Zeit der erste Halt. Alles was zur Versorgung der Bewohner gebraucht wird, laden wir aus. Jeder schnappt sich ein Paket und es geht los zum Dorf Villa Alcira. Ca. 10 - 15 Min. Fußmarsch, bis wir an der kleinen Dorfschule ankommen - mitten im Wald. Die Luft ist drückend und die Moskitos lassen nicht lange auf sich warten. Vorbereitungen werden getroffen und die Behandlungsecken eingerichtet. Eine für Arzt Handy, eine für Zahnarzt José Manuel und eine für Vorbereitungen wie Messen, Wiegen und Impfen der Kinder. Die Kinder sind völlig außer sich und kaum noch zu bremsen, als wir zum Spaß einen Handschuh aufblasen. So schön ist es zu sehen, wie die Kinder toben und lachen! Für viele, besonders die Kleinen, sind die Untersuchungen völlig fremd und werden von Skeptik und Weinen begleitet. Insbesondere die Spritzen und das Zähne ziehen sind verständlicherweise unbeliebt. Die kleinen Patienten werden mit besonders viel Einfühlungsvermögen behandelt und ich bin schon jetzt beeindruckt von der Arbeit unserer Mitarbeiter.

Ich nehme mir ein wenig Zeit, um mich im Dorf umzusehen. Schmale Pfade zwischen den Bäumen führen von einem Haus zum anderen. Überall gibt es Hunde und Hühner sowie reichlich Orangen- und Papayabäume. Die Menschen leben in einfachen Hütten, gekleidet sind die meisten in zu großer oder kleiner Kleidung, oft löchrig und schmutzig. Ernährt wird sich von allem, was die Natur hergibt: Früchte, Tiere (z.B. Schwein, Huhn, Fisch, Affe, Schildkröte - teilweise wird noch mit Pfeil und Bogen gejagt) und immer Reis. Meist eine recht einseitige Ernährung. Wie ich später feststelle, ist dieses Dorf im Gegensatz zu vielen anderen noch in einem "sehr guten" Zustand. Strom und fließendes Wasser gibt es hier fast nirgendwo.

In vielen Orten gibt es überhaupt kein sauberes Wasser - kein Trinkwasser! Hier ist eine zahnmedizinische Versorgung leider unmöglich. Die meisten Patienten würden an einer einfachen Infektion sterben. Was trinken diese Menschen? Womit waschen sich diese Menschen? …..mit Flusswasser!!

Je weiter wir den Quiquibey hochfahren, desto schlechter wird der Zustand der Dörfer und Bewohner. Aus Hütten werden fast nur noch Unterstellmöglichkeiten: kaputte Wände und Dächer, wenn überhaupt welche vorhanden sind. Meist nur ein paar Pfähle und ein Dach. Geschlafen wird auf geflochtenen Matten, die ebenfalls auf Pfählen ruhen. Und "Kleidung" kann man die "Fetzen", die viele Menschen tragen, kaum noch nennen. Kleine Kinder kriechen fast nackt im Dreck oder werden von ihren Geschwistern oder Müttern getragen. Viele wirken lethargisch. Viele Schicksale sind hier zu sehen und zu spüren. z.B. eine junge 20jährige Mutter mit ihrem 6 Monate alten Baby auf dem einen Arm - der andere Arm fehlt! Zerquetscht von einem Baumstamm, abgenommen im Krankenhaus.
Meine Gedanken sind kaum in Worte zu fassen; das Gesehene kaum annähernd zu beschreiben. Ich bin sehr nachdenklich, oft schockiert, rede nicht viel. Tim fragt mich, was ich denke und fühle; aber eine Antwort finde ich nur schwer.

Auch das Befahren des Flusses erweist sich als immer schwieriger, oftmals haben wir nur eine Wasserhöhe von 20 - 30 cm, d. h. aussteigen und schieben für alle. Den ganzen Tag in nasser Kleidung, was zumindest bei Sonnenschein kein Problem, aber sehr anstrengend ist!! Gott sei Dank überwiegt das gute Wetter. Aber der Wasserstand ist nicht unser einziges Problem. Viel Treibholz, besser gesagt ganze Baumstämme liegen im Flussbett und versperren den Weg. Dank Mindo, dem Bootsfahrer, umfahren wir diese mal mehr, mal minder problemlos - ein Kentern bleibt uns erspart. Ein Motorschaden hält uns jedoch auf, da sich eine Reparatur mitten in der Wildnis als nicht so leicht erweist. Mindo kämpft stundenlang mit dem 40 PS Außenbordmotor, um unsere Fahrt fortsetzen zu können. Einige nutzen die Zwangspause zum ausruhen oder baden. Andere nutzen die Zeit zum Angeln, um unseren Nahrungsvorrat wieder aufzustocken.

Auch die Dörfer sind nicht immer einfach zu erreichen. Über Berge von Treibholz, steile und hohe Böschungen, provisorisch zugelegte Löcher und Fußmarsch bis zu 30 Minuten führen uns die Pfade in den Urwald. Ich stelle also fest, dass unsere Mitarbeiter für dieses Projekt jede Menge Schwierigkeiten auf sich nehmen um zu helfen und HIER wird Hilfe wirklich dringend benötigt. Viele Bewohner sehen zum ersten Mal in ihrem Leben einen Arzt und werden behandelt.

Trotz der unübersehbaren Armut überraschen mich die Menschen sehr. Wir werden überall freundlich aufgenommen und die Menschen lassen es sich oft nicht nehmen, uns mit Essen, Früchten, Getränken zu versorgen und auch eine Unterkunft bekommen wir mehrmals gestellt.

Drei Nächte verbringen wir in Dörfern, die uns Unterstände zur Verfügung stellen. Dort können wir unsere schützenden Moskitonetze aufbauen. Die restlichen Nächte schlafen wir direkt am Flussufer. Mit Bambusstangen stellen wir ein einfaches Gerüst auf, über das eine Plane gespannt wird. Eine weitere Plane wird unter die Konstruktion auf den Boden gelegt. Zwischen den Bambusstangen werden noch die Moskitonetze gespannt und unser Nachtlager ist fertig. Alles sehr schlicht, aber zweckmäßig.

Einige Patienten sieht das Team nicht zum ersten Mal, und es ist schön, auch endlich etwas Positives zu hören und berichten zu können. Ein kleiner Junge wurde im letzten Jahr mit Verbrennungen 3. Grades im Gesicht behandelt. Dem Kind geht es gut und die Wunden sind sehr schön verheilt!
Auch einem 1 1/2 jährigen Mädchen konnte letztes Jahr das Leben gerettet werden, wegen einer Blutvergiftung drohte dem Kind der Tod. Das Team Quiquibey nahm es mit ins Krankenhaus - welches für fast alle Menschen dort unerreichbar ist.

Abschließend eine kurze Zusammenfassung der Behandlungen und Diagnosen:

Die medizinische Behandlung in Zahlen:

Zahnmedizinisch:

105 x Neubandlung Erwachsene
2 x Kinder unter 5 Jahre
44 x Zähne ziehen
51 x Fluorbehandlung Kinder
1 x Reparation / Füllung

Allgemein-medizinisch:

54 x Behandlung Patienten unter 5 Jahre
104 x Behandlung Patienten über 5 Jahre

Rückenschmerzen, Atemwegsinfektionen, Parasiten, Augen- und Magen-schleimhautentzündungen, Bronchitis, Mandel- und Lungenentzündungen, Haut- und Pilzerkrankungen, Prellungen, Durchfall, Harnwegsinfektionen, Abszesse, Arthrose, Verbrennungen, Schwangerschaften, Herzerkrankungen, Gallenkoliken, Blutarmut und Leishmaniasis.

 

Das Projekt Quiquibey soll jährlich 3 bis 4 Mal durchgeführt werden, um dort ein besseres, gesünderes Leben zu ermöglichen!!

Am Ende unserer Reise mache ich mir Gedanken über die vielen, vielen Bilder und Eindrücke, die ich hier gesehen und gewonnen habe! Mir kommen Zweifel, wie sinnvoll mein Leben bzw. meine "Tätigkeit" zu Hause in Deutschland ist. Kann nicht auch ich mehr tun für diese Menschen?

Meinen größten Respekt an alle Mitarbeiter vor Ort - ihr leistet so gute und wichtige Arbeit! Ich bin mehr als nur beeindruckt und diese Reise war unbeschreiblich!

Hoffentlich konnte mein Bericht zumindest einen kleinen Teil davon wiedergeben und animiert die Leser, unseren Verein zu unterstützen und bekannt zu machen!

Abschließend möchte ich allen danken, die mir in Bolivien eine schöne Zeit ermöglicht haben.
Des Weiteren herzlichen Dank an unsere liebenswerten Ärzte Handy und José Manuel!