Medizinische Hilfe Rio Quiquibey März 2015
Regenzeit ohne Regen – für unsere Bauarbeiten auf der Tierstation war die Trockenperiode ideal. Fast 2 Wochen regenfrei heißt aber auch sinkende Flusspegel und allen Erfahrenen graut ein wenig vor der Fahrt den Rio Quiquibey hinauf. Ein voll beladenes Boot den Fluss hinauf zu schieben bedeutet Schwerstarbeit für alle. Das Wasser hat trotzdem eine starke Strömung. Es ist nur zu flach für den Außenborder. Aber erstmal müssen wir überhaupt losfahren. Es ist bereits 12.30 Uhr und wir testen den dritten Motor… Für eine halbe Stunde waren wir schon mal unterwegs, hatten den ersten Canyon schon hinter uns, als Juan Carlos, unser Motorista, unzufrieden zur Umkehr mahnte – Motorstottern. Da hilft es auf alle Fälle, alle „deutschen“ Denkweisen gaaaaanz weit weg zu atmen!
Immerhin haben wir uns heute Morgen spontan um 2 Leutchen vermehrt. Carlos und Elvia vom Hospital werden Impfen und sämtliche Kinder bis 5 Jahren und Schwangere auf Mangel- und Unterernährung checken und behandeln. Zum ersten Mal haben wir gleich 2 weibliche Ärzte an Bord. Vera Cruz hat gerade ihr Studium in Cuba beendet. Sonia kommt eigentlich aus La Paz, zog der Liebe wegen nach Torewa. Wir haben sie während der kurzen Medizintour dort kennen gelernt und erfahren, dass sie Zahnärztin ist. Da sie selbst in einem der Dörfer lebt, hoffen wir, dass sie sich besonders gut in die Leute hinein versetzen kann. Josello, der Administrator der Fundacion Salud del Rio Beni ist diesmal selber mit dabei und wird die Medikamentenausgaben managen.
Aber erstmal sind die beiden wichtigsten Personen Juan Carlos am Motor und Melwin in der Bootsspitze. Die Zeichensprache der beiden ist einzigartig. Der Quiquibey hat Niedrigwasser – das aber ist rostrot. Er ist voller Treibholz. Manche der Stämme lauern tückisch unsichtbar unter der Oberfläche in der einzig möglichen Durchfahrt. Manchmal schrammt der Bootsrumpf. Aber Juan Carlos gelingt es zum Glück immer rechtzeitig den Motor aus dem Wasser zu reißen. Der Fluss hat in dieser Regenzeit noch stärker gewütet als zum „Jahrtausendhochwasser“ 2014 – das hat in Rurre nur keiner gemerkt. Dörfer, die früher nach einer viertel Stunde Fußmarsch erreichbar waren, liegen plötzlich direkt am Ufer und müssen um ihre Häuser bangen. An anderer Stelle hat der Fluss sich Abkürzungen gesucht und wir müssen all unsere Kisten und Rucksäcke eine halbe Stunde weit schleppen. Statt am Fluss liegen die Comunidades nun an austrocknenden Altarmen. Darin kann man dann noch besser Moskitos züchten… Definitiv schaffen wir es heute nicht bis zum Ziel. In San Bernardo machen wir Schluss. 15 Meter hohes sandiges Steilufer – die Dorfbewohner helfen uns, alles den Hang hinauf zu wuchten - Kette bilden! Es ist bereits kurz vor 18.00 Uhr. Wir beginnen trotzdem mit der Behandlung, um wieder in den Zeitplan zu kommen. Außerdem mag niemand die ganzen Sachen nochmal hier herauf schleppen… Eigentlich sind es auch nur 4 Familien – so um die 25 Leute etwa. Da es keine Tische und nicht genug Bänke gibt, nutzen wir einfach den Fußboden. Zuerst sind alle Babys, Kleinkinder bis 5 Jahre, Schwangere dran. Carlos checkt die Impf- und Schwangerschaftspässe auf fehlende Impfungen. Ich übernehme den Schreibkram und stelle neue Pässe für die Neugeborenen aus. Elvia kontrolliert Größe und Gewicht. Sie hat Unmengen Nahrungsergänzungsmittel dabei, um Untergewicht und Fehlernährung so gut es geht zu kompensieren – zumindest für eine Weile. Sie zeigt den Müttern auch wie sie mittels Vorhandenem den Mangel an Vitaminen kompensieren können. Obwohl es Früchte gibt, werden sie viel zu wenig konsumiert. Im Anschluss geht’s familienweise zur Ärztin und schließlich zur Zahnärztin bei Bedarf. Gleich in den ersten Stunden erleben wir die härtesten Momente der Tour.
Ein winziges Gesichtchen, spindeldürre Ärmchen, alles kohlrabenschwarz. Vera Cruz hält das Bündelchen aus dem Augenwinkeln im ersten Moment für ein Klammeräffchen. Die Mutter kommt mit einem 2. Bündelchen. Es sind Zwillinge, geboren am 31.1.2015 hier. Heute ist der 16.März. Die schwarze Farbe stammt von einer Frucht und soll gegen die fiesen Sandfliegen, Moskitos und böse Geister helfen. Sieht erstmal erschreckend aus, aber man gewöhnt sich dran. Ich stelle 2 neue Carnet`s aus, kann die Mutter sogar überreden, den beiden einen eigenen Namen zu geben – Sonia & Silvia. Aber das bleiben die einzig schönen Momente. Man braucht Elvia und Carlos nur in die Augen zu schauen… 1800 g, 1850 g, verhärtete Bäuche, abgemagert, dehydriert, keine Stimme zum Schreien, unterkühlt trotz der Hitze, Sonia wirkt noch apathischer als ihre Schwester. Die beiden trinken nicht. Elvia zeigt der Mutter, wie man mit der Hand die Muttermilch trotzdem aus der Brust „streichen“ und auf einem Löffel dem Baby einflößen kann.
Die Mutter wirkt völlig überfordert und hilflos. Einen Ehemann gibt es nicht, man will uns auch den Namen des Erzeugers nicht sagen. In uns keimt ein Verdacht auf – aber der ist jetzt unwichtig! So richtig schlimm wird es, als Elvia die Babys auswickelt. Untenherum sind beide völlig entzündet, pures Fleisch, offene Wunden, Durchfall. Carlos bekommt einen Wutanfall und wünscht sich, dass sein Präsident das jetzt sähe, statt teure Satelliten ins All zu schießen. Die Tücher sind bretthart und es gibt keine Kleidung oder saubere Windeln. Ich hole zwei meiner weichsten Shirts. Gesäubert zeigt Elvia Mutter und Großmutter, wie man die beiden warm einpackt. Sagt ihnen, sie sollen sie sich auf dem Bauch packen. Man muss keinen fragen, um zu wissen, wie schlecht die Chancen stehen. Inzwischen ist es bereits dunkel geworden. Mit Stirnlampen, umschwärmt von Insekten, behandeln wir weiter. Inzwischen helfe ich Vera Cruz beim Untersuchen und Behandeln. Sie hat als Ärztin am längsten zu tun.
Torsten, Melwin und Juan Carlos haben inzwischen das Camp aufgebaut und gekocht. Beim Abendessen, sind die Zwillinge immer wieder Thema. Wir haben getan, was wir konnten – vorerst.
Sonia – die kleinere – hat die Nacht, wie befürchtet, nicht überlebt.
Wir fahren weiter flussaufwärts nach San Luis Grande. Es liegt einigermaßen sicher an einem Zufluss des Quiquibey. Hier steht unser „Gesundheitsposten“ mit einem Medikamentenvorrat, betreut von zwei ausgebildeten Sanitätern. Wir haben Material zum Auffüllen mitgebracht und vereinbaren drei weitere Ausbildungswochen für 2015. Mal sehen, ob alles so wird wie geplant… Die Dorfgemeinschaft hat eine neue Schule gebaut – mit Ziegelsteinen. Steine und Zement stammen aus Rurrenabaque. Ein Boot kann 250 Ziegelsteine oder 10 Sack Zement transportieren. Zwei Klassenräume – sechs Monate – davon ein Großteil Transportzeit. Wir werden 2 Nächte hier bleiben und 2 kleinere Comunidades von hier aus besuchen. San Luis Grande hat klares Wasser in einem Bach, sogar eine Wasserleitung. Ein Luxus für uns. Die 12 Familien, allen voran der Bürgermeister, geben sich wirklich Mühe, ihre Lebensumstände zu verbessern. Der Lehrer kommt aus den eigenen Reihen. Es gibt sogar Gemüsebeete, einen Schulgarten. Die Flächen zwischen den Hütten sind sauber frei gehackt. Es sind viele kleine Dinge, die den Fortschritt anzeigen und trotzdem ist der Unterschied zu Rurrenabaque noch gewaltig. Während der Sprechstunden haben wir alle Hände voll zu tun. Parasiten, Wunden, infizierte Stiche, Abszesse, Leishmaniose – gegen Letztere können wir nichts tun, außer dringend zu einem Aufenthalt im Hospital raten wegen der langen Medikamentation. Und trotzdem ist es besser hier – sauberes Wasser kann so viel bewirken. Am späten Nachmittag gibt’s für alle größeren Kinder und Erwachsenen einen Präventionskurs zum Thema Hygiene, Vorsorge, Impfungen, Mutterschutz und gesunde Ernährung. Welches Salz, welches Öl, welche Nudeln sind die gesünderen. Nicht leicht, wenn die nährstoffarmen Billigimporte aus Brasilien die preiswerteren sind – kennen wir ja das Problem! Meist tauscht man die fehlenden Lebensmittel auch nur beim Flusshändler ein. Egal, wichtig ist es, einen Anfang zu machen! Das letzte Tageslicht nutzen wir schließlich für ein Volleyballmatch. Ein richtig guter Tag. Wir sitzen noch bis Mitternacht zusammen.
Am nächsten Morgen krabbeln wir schon im Morgengrauen aus den Zelten. San Luis Chico ist mit 16 Familien zurzeit die größte Comunidad auf der Reise und liegt seit dieser Regenzeit noch weiter weg vom Fluss. Schon nach dem Ausladen sind wir schweißgebadet. Gestern hatten wir per Funk unser Kommen angekündigt und um Hilfe beim Tragen der Ausrüstung gebeten – im Moment ist aber keiner zu sehen. Dann hören wir Stimmen. Wir atmen auf und marschieren erleichtert los. Drei oder viermal müssen wir durchs Wasser. Am Ende sind es vielleicht 30 Minuten Fußmarsch – weniger als angekündigt. Es ist noch Unterreicht in der schule und wir nutzen den glücklichen Umstand gleich für unsere Zahnputzschule. Das Lehrerehepaar unterstützt uns mit allen Kräften. Alle Männer, die gut spanisch sprechen, helfen beim Übersetzen. Während wir „medizinisch“ arbeiten, bringen Melwin und Juan Carlos den totgeglaubten dorfeigenen Außenborder wieder zum Laufen. Eine mindestens genauso wertvolle Hilfe. Die Luft steht unterm Palmendach, die Sandfliegen nutzen jeden Zoll freie Haut. Wir bekommen Kokosnüsse und Pampelmusen gegen den Durst. Die Krankheitsbilder sind die gleichen, aber es ist schlimmer hier.
Brasilianer haben im letzten Jahr eine Kirche hier gebaut, das ist neu – viel Geld, viel Aufwand. Keine andere Hütte hier hat ein Betonfundament. Es gibt tatsächlich Notenständer, eine Klarinette und zwei Trompeten – aber keine Zahnbürsten. So richtig, weiß keiner von uns, was er davon halten soll.
Die Männer helfen uns, unser material wieder zum Boot zu tragen. Wir freuen uns auf den Fahrtwind! Endlich eine kleine Abkühlung! Dabei kommen wir nur langsam voran. Melwin prüft ständig die Wassertiefe, sucht die einzige Durchfahrt. Einige Male müssen wir umkehren und neu versuchen.
Nach 20 Minuten Zwischenstopp in San Bernardo. Elvia will nach dem anderen Zwilling sehen. Eigentlich sollte die Mutter uns mit beiden Babys nach Rurre begleiten. Im Hospital gibt es seit kurzer Zeit eine Extrastation für Mütter mit untergewichtigen Säuglingen. Man bekommt außerdem Kleidung und eine kleine Grundausstattung für das Baby und natürlich medizinische Versorgung. Unser Projekt würde die fehlenden Mittel für etwaige Extrabehandlungen bereitstellen. Ich krabble mit Elvia das Steilufer hoch. Vielleicht können wir ja die Mutter doch überreden, mit uns zu kommen … wenn der andere Zwilling noch lebt… Erleichtert vernehmen wir, dass Silvia noch am Leben ist. Wir brauchen noch jemanden zum Übersetzen. Aber wie erwartet will und kann uns die Mutter nicht begleiten. Es ist Reisernte. Erntet sie jetzt nicht, fehlt ihr der Reisvorrat bis zur nächsten Ernte. Reis ist Hauptnahrungsmittel, Essen ist überlebenswichtig. Sie hat schließlich noch mehr Kinder. Wir haben längst vergessen, wie das ist!!! Alleine dürfen wir das Baby nicht mitnehmen, auch wenn Elvia um Erlaubnis fragt. Es ist nicht wirklich was besser geworden. Wieder streicht sie Milch aus der Mutterbrust und zeigt ihr, wie sie der Kleinen die Milch mit einem Löffel einflössen kann. Wir fragen, ob sie die Creme gegen die wunden Stellen aufgetragen hat. Haben sie. Wir baden die Kleine, versorgen die wunden, offenen Stellen. Frische trockene Luft auf der Haut würde helfen – aber das bleibt Utopie bei den vielen Stechinsekten. Wir packen das kleine Menschlein wieder ein. Es gibt nichts mehr zu tun. Nach ihrer Einschätzung befragt, sagt Elvia zögerlich: „ Man könnte sagen, es ist nicht wirklich schlechter geworden.“. Frustrierend!
Bereits im nächsten Dorf erwartet man uns wieder sehnsüchtig und die Arbeit bringt auf andere Gedanken. Es gibt doch tatsächlich Kinder mit geputzten Zähnen!!! Das ist ein Erfolg. Alle Schulkinder sollen zur Kontrolle - Zahnärztin Sonia und der Lehrer lassen keinen entwischen. Zur Belohnung gibt’s was Süßes. Nicht gerade pädagogisch wertvoll – aber macht Freude! Elvia kann alle Schwangeren überzeugen, zur Vorsorge ins Hospital nach Rurrenabaque zu kommen. Klar, die Comunidad liegt wesentlich näher an Rurre, aber nix ist selbstverständlich. Im nächsten Dorf erwartet uns eine weitere Überraschung. Bisal hat seine allererste Schule – mit immerhin 10 Schülern und einem Lehrer der zwar sehr jung aber sehr engagiert ist. Vor allem die Väter sind richtig ein bissl stolz, als ihre Kinder im einheitlichen „Barcelona-Shirt“ vor uns aus der Schule marschieren.
Am Ende hat Vera Cruz in 5 Tagen über 150 Patienten behandelt. Damit hatte sie den Löwenanteil der Arbeit. Sonia hatte 129 Patienten zur Zahnkontrolle bzw. – behandlung. Wieviel Impf-Carnet`s durch meine Hände gegangen sind, weiß ich noch nicht. Carlos und Elvia führen ihre Statistiken im Hospital – da dauert es etwas länger. Eine Bootsschraube haben wir verschlissen – angesichts des Wasserstandes bewundernswert. Hut ab vor Juan Carlos und Melwin, den Bootsführern!
Auf Wiedersehen bis zum nächsten Jahr! 2015 wird Projekt Regenzeit eine weitere lange Versorgungsfahrt am Quiquibey finanzieren(sobald zu Beginn der nächsten Regenzeit wieder genug Wasser im Fluss ist…) dazu zwei kurze Touren am Beni, 3 weitere medizinische Ausbildungskurse über je eine Woche für Marciella und Noemi aus San Luis Grande, sowie einen Nothilfe-Fond für die Flussbewohner.
Ein großes Dankeschön an euch alle!!!!