Medizinische Hilfe Rio Quiquibey 2018
Regenzeit – zum ersten Mal seit Januar regnet es seit 14 Stunden durch. Die Wolken hängen tief und wasserschwer in den Bäumen. Wirklich hell wird es nicht draußen – ein guter Tag, um endlich Berichte zu schreiben…
Dabei hatte Rurrenabaque bisher Glück! Während in der Hälfte des Landes wegen Unwettern, Flutwellen und Überschwemmungen der Notstand ausgerufen wurde, trug der Rio Beni zwar Unmengen an Wasser aus den Überschwemmungsgebieten an uns vorbei, blieb aber gerade so in seinem Bett. Wir hatten uns ganz umsonst Sorgen gemacht und konnten am Montag, den 19.2. bolivianisch pünktlich flussaufwärts starten – das Boot, unser eigenes Boot, voll beladen mit Medikamenten und einem bewährten Team. Melwin sitzt diesmal nicht im Heck am Motor, sondern vorn in der Spitze als Puntero. Hinten steuert Esteban. Er ist am Quiquibey geboren, ist selbst Tsimane und nicht nur ein besonnener, erfahrener Motorista, er kann uns auch als Übersetzer helfen. Als wir nach 8 Stunden den Weiler San Bernardo erreichen, gibt’s spontan Applaus für die beiden Seemänner. Stellenweise war der Fluss so flach und kaum eine Durchfahrt zu finden, so dass mehrere Anläufe notwendig waren. Dabei muss hinten im entscheidenden Moment der Motor wegen der Schraube aus dem Wasser gerissen und vorne gestakt werden, um das Boot in Bewegung zu halten. Und wir sind viele und schwer….
Sobald der Fahrtwind verschwindet, erschlägt einen die Hitze wieder. Schon nach dem Ausladen des Boots sind alle schweißgebadet. Aber jetzt steht der Gepäckberg erstmal nur am Ufer und muss noch rauf zu den Hütten. Zum Glück gibt’s helfende Hände. Es leben nur 6 Familien hier. Mit im Schnitt 7 Kindern ist die Anzahl der Bewohner dann trotzdem größer. Wir machen am ersten Tag vor allem deshalb hier Station, weil direkt neben der Comunidad ein klarer Zufluss einmündet. Erwischt man den richtigen Moment, in dem die Sandfliegen schon Feierabend haben und die Moskitos noch nicht am Arbeiten sind, kann man sich ein erfrischendes Bad gönnen. Spätestens beim warmen Abendessen schwitzt man dann jedoch wieder so sehr, dass alles vergebens war. Bis es soweit ist, wird aber noch behandelt. Während wir uns einrichten, stecken die Mütter ihre Kinder nochmal ins Wasser und suchen nach den Dokumenten. Carlos aus dem Hospital von Rurre begleitet uns nun schon viele Jahre. Er wird impfen, Injektionen setzen und springt immer da ein, wo es brennt. Ein echter Glücksgriff. In der Regel sind die staatlichen Angestellten alles andere als motiviert überhaupt zu reisen und wenn, gibt’s Dienst nach Vorschrift. Sonja, unsere Zahnärztin, bereitet ihre Instrumente und die Zahnputzcampagne vor. Familie für Familie wird erfasst. Im Gepäck haben wir dicke Ordner mit den bereits vorhandenen Krankenblättern jedes Dorfs. Die bereits erfassten Patienten rauszusuchen ist wegen des Namenswirrwars schon die erste Herausforderung.
Das Kombinationssystem von Vater- und Muttername hat für die Leute hier draußen nicht wirklich Bedeutung im Alltag. Josello verzweifelt schon manchmal. Jeder wird gewogen und bei den Erwachsenen Blutdruck gemessen, Carlos checkt derweil die Impfausweise. Das Wiegen ist wegen möglicher Medikamenten Dosierung wichtig und sorgt immer wieder für die ersten Heulattacken. Die Waage (eine ganz normale Personenwaage) ist vielen Kindern jedes Mal so suspekt, dass sie regelrecht ausflippen vor Angst. Wiegen und Impfen können für einen immensen Geräusch- und Stresspegel sorgen. Sind die Daten erfasst, landen sie auf meinem „Tisch“. Als mal rechte, mal linke Hand unterstütze ich Doktorita Mabell, übertrage Daten, schreibe Register und Rezepte, verteile die Sofortdosis gegen Parasiten und übersetze die „Medikamentenbestellung“ ins Deutsche. Denn in der „Apotheke“ sitzt Otto. Er muss dann aus Wurfkisten und wasserdichten Säcken das richtige raussuchen. Wir entwickeln eine spanisch-deutsche Kurzsprache und sorgen schon mit unserer Kombination für gute Stimmung. Die Bolivianer feixen sich kaputt. Aber es funktioniert. Otto arbeitet außerdem als „doktor globo“(Doktor Luftballon) – der einzige Doktor hier, der wirklich nur für glänzende Augen sorgt, wenn man tapfer die Impfung oder die Wurmdosis ertragen hat. Einfach nur ein paar Luftballons….
Der Rest des Teams schleppt und schwitzt immer noch, Zelte und die Kochstelle müssen aufgebaut werden. Neben Melvin und Torsten unterstützt uns Rolf in diesem Jahr. Genau wie Otto hat er bereits vor 2 Jahren mehrere Wochen auf unserer Tierstation gearbeitet. Natürlich muss unsere Arbeit auch fotografisch dokumentiert werden – nicht nur für unsere Unterstützer. Ich habe Bilder jeder Familie vom Vorjahr dabei. Die Schnappschüsse werden immer sehnsüchtig erwartet. Im letzten Tageslicht behandeln wir die letzten Patienten. Noch immer kostet es viel Geduld, den schüchternen Müttern zu entlocken, was weh tut, wie lange usw. Das liegt nur zum Teil an der Sprachbarriere, sondern am Wesen der Flussbewohner. Don Esteban ist als Übersetzer dann eine große Hilfe und man spürt auch von Jahr zu Jahr eine Besserung. Die Mutigen ermuntern die Zaghaften und Mabell lässt nicht so schnell locker. Der nächste Arzt kommt mit Glück in einem halben Jahr nach der Trockenzeit. Oder aber in einem Jahr, wenn wir zurück sind.
Schließlich sitzen alle zufrieden und satt in der Runde. Den richtigen Moment zum Baden haben wir verpasst und die Hälfte flucht bereits über juckende Stiche. Die Gummistiefel zieht man am besten nie aus, die langen Sachen sowieso nicht. Aber durch das viele Schwitzen läuft jeder Mückenschutz auf freien Hautstellen, wie Gesicht und Hände, sofort wieder davon. Ich weiß, elende Jammerei, die Dorfbewohner haben weder Gummistiefel noch Mückentötulin und sind immer hier….
Wir gönnen uns jetzt unterm Sternenhimmel einen Schluck Singhani und stoßen auf einen erfolgreichen ersten Tag und eine gute Reise an. Der erste Schluck geht wie immer an Pacha Mama!
Die Morgensonne gart uns bereits im Zelt. Esteban hat im Boot geschlafen, da es keine wirklich gute Anlegestelle gab. Frühstück, Packen, alles wieder zum Boot schleppen, beladen und los gehts weiter den Fluss hinauf nach Aquas Claras und San Luis Grande. In San Luis Grande werden wir 2 Nächte bleiben. Das entspannt die Plackerei unheimlich. Am ersten Abend sitzen wir mit den Dörflern zusammen. Trini Tayo erzählt, dass sie eine neue Solarpaneele, Lampen und Kabel bekommen haben, aber keiner weiß, wie man das Zeug zusammenbaut. Zum Glück haben wir ja unseren „Ingniero universal“ Rolf dabei. Am nächsten Nachmittag, als alle behandelt sind, ziehe ich mit ihm los zur Hütte des Dorfchefs – Material abchecken. Sooo schwer kann das ja nicht sein. Mhm, das ganze Material ist eine Spende der zuständigen Distrikthauptstadt. Leider sind die geschenkten Glühbirnen für Solarpaneelen gar nicht nutzbar ohne Umwandler. Aber es gibt einen Notstromer, der bereits ein Haus mit Licht versorgt, ob wir denn nicht die 2 nebenstehenden Häuser mit an den Motor anbinden können. Ok, während ich Kabel verlege (ich habe einfach die bessere Körperlänge, wie die Einheimischen), macht Rolf die Anschlüsse. Und siehe da, es ward Licht. Aber nun, wo sie doch einmal solche Koryphäen im Dorf haben, wäre es doch schön, wenn die 4 Hütten da drüben auch noch Licht bekämen. Hui, da stehen ja noch 7 Hütten und nicht nur vier. Die Abstände zwischen den Hütten sind nicht gerade klein. Zweimal müssen wir einen Mast zur Überbrückung installieren. Nach 4 Stunden wir der Motor wieder angeworfen und es funktioniert!!!! Rolf hat alle Hütten mit Licht versorgt und die Familien freuen sich wirklich!!!! Durch unseren Arbeitseinsatz haben wir jede Hütte von innen gesehen – spannend und ernüchternd und ein kleines bisschen gruselig vielleicht. Egal, wir sind verschwitzt und dreckverschmiert aber stolz. Während Team „Elektrik“ unterwegs war, haben die anderen die Zahnputzcampagne organisiert. Sonja hat erfreut festgestellt, dass sich wirklich Besserung abzeichnet. Ein echter Erfolg! Und Carlos hat sogar einen ordentlichen Fisch gefangen, der dem Team das Abendessen sichert.
Eine wirklich große Überraschung erwartet uns am letzten Abend in unserem „Problemdorf“ Corte. Statt Unrat, Müll und Chacos erwartet uns ein regelrecht gepflegter Rasen, neu saubere Hütten mit gefegten Böden davor. Es gibt sogar ein Plumpsklo. Das Dorf hatte zum ersten Mal eine Lehrerin und somit eine Schule im vergangenen Jahr. Sie hat einen großen Anteil an den Veränderungen. Hey, wir sind wirklich überrascht! Umso elanvoller stürzen wir uns in die Behandlung. Die letzten Diagnosen stellen wir im Stockdunkeln im Schein der Taschenlampen. Sonja verschiebt das Zähne ziehen lieber auf den nächsten Morgen.
Resümee der Tour:
Wir haben in sieben Dörfern über 200 Menschen behandelt und dabei keine katastrophalen Extremfälle gehabt. Die Zahnputzcampagnen greifen langsam. San Suis Grande hat Licht. Wehrmutstropfen: Wir werden wohl auch diesmal die Einzigen sein, welche die obersten Dörfer versorgen. Heißt, die Leute müssen nun ein Jahr auf uns warten. Aber wir haben den Medizinschrank im Gesundheitsposten in San Luis Grande aufgefüllt, so dass die von uns ausgebildeten Ersthelferinnen Noemi und Marciella den Leuten in den obersten Dörfern helfen können. Besonders schlimm ist - und da ist sich das ganze Team einig - obwohl seit Anfang Februar das neue Schuljahr begonnen hat, ist in keinem der Dörfer ein Lehrer vor Ort gewesen und keins der Dörfer weiß, wann und ob 2018 wirklich einer ankommen wird. Traurig - vor allem, wenn man weiß, was ein motivierter Lehrer bewirken kann.
Vielen Dank an unser Team-Bolivien und an alle, die uns in Deutschland unterstützen! Insbesondere der Zahnarztpraxis Dr. Mehmke und Kollegen aus Chemnitz. Seit 2013 hat das Zentrum für Zahnmedizin regelmäßig die Lohnkosten unseres angestellten Zahnarztes vor Ort in Bolivien übernommen und organisierte außerdem verschiedenes Spezialequipment für unsere kleine Urwaldklinik. Eine unkomplizierte, reibungsfreie Zusammenarbeit seit Jahren!
Zahnarztpraxis Dr. Mehmke und Kollegen. Chemnitz