Medizinische Hilfe Rio Quiquibey 2016
Ist der Plan noch so gelungen….
… verträgt er immer Änderungen! Oder um mit der bolivianischen Oberregel zu sprechen: Todo es posible – nada es seguro!
Sonnabendnacht erhält Josello die Nachricht, dass sein Vater schwer erkrankt ist. Selbstverständlich für uns alle, dass die Familie vor geht – allerdings fehlt uns mit Josello der erfahrene Apotheker. Aber das kriegen wir hin. Montag früh warten wir im Hafen vergeblich auf den fest zugesagten Mitarbeiter vom Krankenhaus Rurre mit seinen Impfstoffen. Antonio muss extra hinfahren und nachfragen. Die Antwort: es ginge halt doch nicht, keiner kann, nicht genug Impfstoffe, keiner will… Dies alles fällt ihnen erst Montag früh zur Abfahrt ein. Natürlich muss man da nicht Bescheid sagen… Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren. Immerhin stechen wir trotzdem (Rekord verdächtig) um 9.00 Uhr in See. Drei Stunden später treiben wir manövrierunfähig auf dem Quiquibey. Der gebraucht gekaufte Motor ist einfach fest. Eigentlich sollte der fundacionseigene Motor Kosten sparen. Er war generalüberholt worden mit neuer Benzinpumpe und allem Pipapo. … „nada es seguro“ in Bolivien. Zum Glück sind wir gerade mal zwei Flusswindungen oberhalb von Asuncion del Quiquibey, einem großen und gut organisierten Dorf in Mündungsnähe. Erstmal müssen wir allerdings ans Ufer kommen. Natürlich haben wir kein Paddel für den Notfall, aber immerhin 22 Hände und ein Kantholz an Bord. Melwin, Orlando und Fernando sprinten in den Wald um robuste Stakestangen zu schlagen. Mit denen manövrieren wir uns flussabwärts zurück nach Asuncion del Quiquibey. Jetzt müssen wir nur noch Glück haben und es gibt im Dorf tatsächlich einen Viertaktmotor mit 40 PS, der auch noch funktioniert und den man uns auch leihen möchte. Tatsächlich haben wir Glück!!! Nach 15 Minuten stehen Torsten und Melwin tatsächlichen mit einem Ersatzmotor am Ufer. Endlich mal eine positive Planänderung – allerdings eine teure. Statt Kosten zu sparen, müssen wir jetzt natürlich noch drauf zahlen. Aber viel wichtiger ist für uns, dass die Tour heute noch weiter gehen kann – und das jetzt gleich. Der Quiquibey führt für die Jahreszeit Niedrigwasser. Ohne einen gewieften Motoristen und einen blickigen Mann in der Bootsspitze (den Puntero), hat man keine Chance. Melwin leistet hinten Schwerstarbeit – immer rechtzeitig den Motor raushebeln und wieder einsetzen. Im Ernstfall müssen auf „ahora si!“ alle naus hupp`n und schieben. Wobei das raus springen immer der unkompliziertere Teil ist. Praktischer weise haben alle noch ihre Gummistiefel an… Bis hinauf nach San Luis Grande schaffen wir’s heute nicht mehr. San Bernardo heißt das Etappenziel. Immerhin gibt’s hier einen klaren kleinen Zufluss. Das Zeitfenster zwischen Mariquis (obergarstigen Sandfliegen – bis zur Dämmerung) und Moskitoplage (ab der Dämmerung) könnte man ja nutzen, um sich zu waschen – ha, ha! Natürlich machen das nur unsere Greenhörner – noch mehr ha, ha!
Während sich Frido, Torte und Fernando um das Camp kümmern, beginnt der Rest gleich mit der Behandlung. Dr. Mabella ist Bolivianerin, hat in Cuba studiert und danach für längere Zeit auf einem Medizinschiff im brasilianischen Amazonien gearbeitet sowie auf abgelegenen Gesundheitsposten in Bolivien. Sie erweist sich als Glückstreffer. Sie hat nicht nur ein Händchen für die Menschen am Fluss, die ja kaum Spanisch sprechen. Sie schafft es auch noch gleichzeitig 3 Volontären in gebrochenem Englisch-Lateinisch-Spanisch-Mix die Welt zu erklären. Da es hier nur vier Familien sind, genügt ein Arzt zum Behandeln. Franz, Medizinstudent aus Leipzig, ist zwar erst seit reichlich einer Woche und zum ersten Mal überhaupt in Bolivien, spricht kaum Spanisch, aber arbeitet sofort los und wird Dr. Mabellas persönlicher Assistent. Schon allein, dass er den ganzen Schreibkram erledigt (Patientenlisten, Rezepte…), spart unheimlich Zeit und Energie für Dr. Mabella. Welche hier in San Bernardo außerdem noch 2 Amerikanerinnen dirigiert. Sie sind über ein amerikanisches Austauschprogramm im Rahmen ihres Studiums zum „Paramedico“ für einige Wochen in Rurrenabaque und ahnen nun so langsam, worauf sie sich mit dieser Reise eingelassen haben….Nein, es gibt keine Dusche. Nein, auch kein Klo. Nein, auf der ganzen Reise nicht! Ab Übermorgen sollen sie eigentlich in den großen Dörfern ihre eigene Sprechstunde machen – etwas Spanisch wäre da schon gut! Vamos a ver! Ich unterstütze derweil Orlando, den Zahnarzt. Zum ersten Mal machen wir hier mitten im Regenwald auch Füllungen. Es ist so genial, wenn die Dinge immer besser werden. Klar träumt man da sofort von Zahnersatz! Instrumente waschen, Patientenliste schreiben, Rezepte ausstellen und Fotos machen ist mein Job. Die Vorher-/Nachherfotos werden der Renner. Die Leute haben ja keine Spiegel und so können wir beweisen, dass es beim Zahnarzt nicht nur ums Zähne ziehen geht.
19.30 Uhr sitzen wir alle geschafft aber zufrieden bei Kerzenschein und genießen Reiseintopf a la Fernando und Frido.
Nächster Morgen, zweite Etappe. Nach dem Frühstück startet die Zahnputzschule. Da es keine Schule gibt, putzen wir gleich mit allen Einwohnern zusammen. Franz und Frido unterhalten sich darüber, wie seltsam es doch sei, dass eine Sache, die bei uns selbstverständlich ist, hier völlig unüblich ist. Es ist auch noch lange nicht damit getan, dass man die Bewegungen vorführt. Selbst die Kinder im Grundschulalter betrachten einen eher mit Verwunderung, satt endlich los zu legen. Man muss die Sache wortwörtlich selbst in die Hand nehmen. Immerhin soll am Ende die ganze schöne lila Farbe der Zahnfärbetabletten verschwunden sein. Egal ob mit oder ohne Spanisch, alle legen Hand an die Zahnbürsten.
Leider ist der Quiquibey nochmal 20 Zentimeter gesunken. Wir sitzen also nicht lange trocken im Boot. Allerdings ist die Abkühlung willkommen und die unfreiwilligen Stunts beim Reinspringen werden routinierter. Gegen Mittag erreichen wir endlich San Luis Grande. Hier werden wir zwei Nächte bleiben. Wir schleppen unsere gesamte Ausrüstung in die Schule und halten erstmal Siesta. Hier steht auch der von Projekt Regenzeit unterstützte Gesundheitsposten. Noemi und Marciella (Sanitäterinnen) können wir die freudige Nachricht überbringen, dass auch dieses Jahr Geld für eine weitere Ausbildung vorhanden ist. Die Medikamente im Posten werden wir auch auffüllen. Aber behandeln werden wir hier erst morgen – heute Nachmittag fahren wir ins oberste Dorf nach Bolson. Klar ist unser Boot ohne die Campausrüstung und die Verpflegung leichter – aber der Fluss wird auch immer flacher… am Ufer entdecken wir Kaimane und Schildkröten, die in der Mittagssonne dösen. Eigentlich wissen wir nie genau, wieviel Familien uns erwarten. Gerade in kleineren Comunidades ist das Umziehen sehr beliebt. Aber dass uns in Bolson im Moment nur eine Familie lebt, ist schon Negativrekord. Wir beschließen daher gleich im Boot zu behandeln, statt alles erst die steile Böschung rauf zu schleppen. Zumal es in Bolson keinen Tisch und vielleicht nur 2-3 Bänke gibt. Da ist es im Boot – vor allem für den Zahnarzt komfortabler – sind ja auch nur 7 Leutchen… Denk`ste, 20 Minuten später erscheint plötzlich oben am Ufer eine 2. Mutter mit ihren Kindern. Ist halt so! Am Ende sitzen wir 1,5 Stunden in Sandfliegenwolken vom Feinsten. Nur der Vater kann etwas Spanisch. Es kann also entweder ein Arzt oder der Zahnarzt oder der Apotheker arbeiten. An die vielgerühmte deutsche Effizient sollte man sich nicht klammern, sonst droht Wahnsinn!
Zurück in S. L. Grande verausgaben wir uns beim Feldvolleyball, während Torsten, Antonio und Melwin ihr Glück mit dem Angelhaken suchen. Nach anderthalb Stunden Volleyball ist nicht nur meine Birne rot wie eine Tomate. Wenn man sich jetzt doch nur in den herrlich klaren Fluss stürzen könnte. Kann man natürlich, aber nur mit langen Klamotten! Die Fische haben bei der Hitze auch keine Lust – also gibt’s heute Spaghetti und danach eine gemütliche Runde zusammen mit einigen Dörflern. Es wird gemeinsam Coca gekaut, palavert und Singani getrunken. Dabei versuchen wir dann noch den Amerikanerinnen ordentliches Spanisch bei zu bringen. Klappt nach ein/zwei Bechern Singani-Limon immer besser. Vielleicht sollten wir auf den 96%igen Ceibo zum Mixen umsteigen – dann sprechen wir jede Fremdsprache flüssig. Auf dem Etikett steht immerhin extra „Alkohol portable“ – also trinkbar drauf. Dieses Zusammen sitzen am Abend ist unheimlich wichtig, nicht nur fürs Team, sondern auch, weil man hier viel mehr erfährt über die Menschen und deren Probleme. In solcher Runde ist schon so manches erfolgreiche Zusatzprojekt entstanden. Natürlich hilft dabei auch, dass unser Projekt seit 2007, Dank Eurer Unterstützung, immer wieder an den Fluss gekommen ist. Auf die Deutschen vom Projekt Regenzeit können sie sich eben verlassen. Obwohl es manche mit der Völkerverständigung übertreiben und erst um vier Uhr morgens die letzte Kerze ausgepustet wird, sind um 9.00Uhr alle fertig für die Sprechstunde. Heute arbeiten wir mit 2 Ärzteteams. Das Dorf ist wirklich gut organisiert. Viele sprechen spanisch, bzw. helfen uns alle gern als Übersetzer. Da wir schon am frühen Mittag fertig sind, fahren wir nach einer kurzen Pause noch flussabwärts nach Aquas claras. Fünf Familien wohnen hier. Obwohl sie hier wenigstens einen klaren Zufluss haben, leiden alle unter Parasiten. Die Verständigung ist schwierig, da nur 2 Männer spanisch sprechen und gerade diese beiden auch noch sehr schüchtern sind.
Damit gerade die kleineren Kinder die Anti-Parasiten-Medikamente wirklich einnehmen, gibt Dr. Mabella sie ihnen direkt. Dabei ist sie – anders als die Eltern – freundlich aber resolut. Wir kämpfen derweil als Zahnarztteam gegen Windmühlen. Wir haben uns das einzige tischartige Gebilde im Dorf erkämpft – es ist die Ablage für die trocknende und geräucherte Jagdbeute – abenteuerlich. Zum Zahnarzt geht man doch nur mit Zahnschmerzen und dann muss der Zahn gezogen werden. Schließlich ködern wir zuerst die Kinder mit Luftballons und necken dann die Männer so lange, dass sie doch mehr Angst hätten, als ihre Kinder, bis sie sich überzeugen lassen. Dabei helfen auch wieder die Vorher-/ Nachherbilder von groooßen schwarzen Löchern und weißen Zahnfüllungen. Schließlich kommen sogar die Frauen und statt dem Schreckgespenst Zahnarzt haben wir eine Menge zu lachen. Doch man sieht auch wieder wie viel alleine Zähne putzen helfen würde. Zahnbürsten haben wir genug dabei, samt Bechern und Zahncreme.
18.00 Uhr sind wir wieder in San Luis Grande. Die Sonne steht tief. Das macht die Hitze allmählich erträglich und wir rufen alle zusammen zur „Zahnhygiene-Schulung“. Danach bleibt sogar noch Zeit für ein Volleyballmatch Ärzte gegen Dörfler. Ich nutze die Zeit, um mit Hilfe von Dr. Mabella, Noemi und Marciella aus dem Dorf den Medikamentenschrank nach verfallenen oder nicht nutzbaren Arzneien zu durchforsten. Noemi und Marciella haben bisher nur eine Grundausbildung. Medikamente, die sie nicht wirklich kennen, geben sie uns lieber mit. Schließlich stocken wir den Grundbestand noch um einige gängige Präparate auf und schreiben Dosierungsanleitungen in Großbuchstaben als Gedankenstütze. Als wir fertig sind ist es gegen 21.00 Uhr und in den Bergen grummelt es. Schließlich zucken die ersten Blitze am Nachthimmel und es schüttet aus Eimern. Wir sind froh um das Dach über den Zelten. Na klar hatten wir uns Zuschusswasser gewünscht – aber doch nicht über unseren Köpfen! Am Morgen gießt es immer noch. Der Fluss ist um etwa einen Meter gestiegen. Warten wir ab, mit dem Risiko, dass der Quiquibey weiter steigt und womöglich unpassierbar wird? Oder schleppen wir alles durch den Regen und können vielleicht über die kleinen angeschwollenen Zuflüsse direkt bis in die Dörfer fahren, statt eine halbe Stunde zu laufen? Ganz klar, wir hoffen auf die angeschwollenen Zuflüsse. Irgendwann trocknet schon alles wieder. Angst vorm Aufsitzen müssen wir nun keine mehr haben und wir sind rasend schnell im nächsten Dorf. Allerdings ist der Zufluss weder breit noch tief genug für unser Boot. Also müssen wir doch die halbe Stunde in den Wald rein laufen. 2014 hat der Quiquibey während der Regenzeit seinen Lauf geändert und so Bisal uns San Luis Chico vom großen Fluss abgeschnitten. Es wird eine Schlammschlacht. Schließlich müssen wir auch noch diverse kleine Zuflüsse queren, die hier wesentlich tiefer sind, Oberschenkel tief. Es schwappt in den Gummistiefeln. Während wir Spaß haben quietschen unsere 3 Doktoras jedes Mal herrlich wenn es ins Wasser geht. Am Nachmittag hat der Regen endlich ein einsehen. Dafür muss Melwin mit dem Motor zwischen dem zunehmenden Treibholz höllisch aufpassen.
Acht Dörfer und 5 Tage später biegen wir wieder in den Rio Beni ein. Am Ende glücklich und zufrieden, vielleicht ein klein wenig müde und mit großer Sehnsucht nach einem eisgekühlten Getränk. Eine Stunde und zwei Canyons trennen uns noch vom nächsten Kühlschrank. Es wird nochmal eng. Auch der Beni ist gestiegen und in den Canyons gurgelt und brodelt die braune Brühe. Baumstämme rotieren in riesigen Strudeln. Werden hinabgezogen und fluppen an andere Stelle wieder an die Oberfläche. „Schwimmwesten anlegen!“ lautet der Befehl. Wir nehmen die wasserdichten Beutel mit Kamera und Papieren vorsichtshalber an die Hand. Aber alles geht gut. Melvin bekommt für die letzte Stunde eine extra kalte Cola.
Passender weise kommt Cachi ein paar Minuten später mit dem Team „Jaguarete“ am Anleger angefahren. Frida, Otto, Rolf, Felix und Max haben eine weitere Woche im Refugio gearbeitet. Cachi überrascht uns mit der Neuigkeit, dass am Donnerstag vier Kapuzzineräffchen auf Station angekommen sind. Doch das ist eine andere Geschichte.