Medizinische Hilfe Rio Beni 2017
21. Januar – seit 4 Tagen hat es fast durchgehend geregnet, ach was – geschüttet hat es. Der Rio Beni ist entsprechend gestiegen, aber das Treibholz ist bereits durch. Treff 8.00 Uhr am Hafen und alle sind da!!! Melvin wird, wie immer, unser Boot steuern, die Oberregie über die Küche übernehmen, die Stimmung hochhalten. Das Hospital Rurrenabaque hat Carlos samt Impfstoffen geschickt. Er war schon oft mit uns dabei und gehört zum Team. Von der „Fundacion Salud del Rio Beni“ sind Vera Cruz als Ärztin und der Administrator Josello dabei. Er wird quasi als „Vorzimmer“ fungieren und gleichzeitig die Medikamente managen. Sonia, unsere Zahnärztin, ist überraschend nochmal Mutter geworden und hat deshalb ihren drei Monate alten Sohn dabei. Sie wollte unbedingt mit – irgendwie kriegen wir das mit dem Baby hüten auch noch hin! Da Torsten auf Jaguarete arbeiten wird, begleite ich die kurze Tour alleine – quasi als „Ingeniera universal“.
Mit uns startet ein Suchkommando bestehend aus Polizei, Parkrangern und Mitarbeitern von Mogli-Tours. Vor 3 Tagen ist aus deren Camp ein Tourist spurlos verschwunden – seit drei Tagen. Die Gerüchteküche brodelt. Aber das ist zum Glück nicht unsere Baustelle.
Wir starten den Beni aufwärts. Zuerst müssen wir die 2 Canyons passieren, dann wird die Fahrt entspannter. Die braune Brühe gurgelt an den Engstellen. Strudellöcher ziehen das Boot an, „Wasser-Pilze“ heben es förmlich hoch. Alle sind angespannt – vor allem Melvin. Ich überleg schon mal, was wir mit dem Kleinen machen. Wir Großen haben immerhin Schwimmwesten. Ein guter „Plan B“ schadet nie und hat man einen, passiert auch nix! Murphys Gesetz. Wir schießen förmlich aus der letzten Engstelle heraus. Erster halt Embocada – wir geben Bescheid, dass wir in 2 Tagen „en la tarde“ wiederkommen und bitten um Hilfe beim Tragen der Medikamente und medizinischen Ausrüstung. Weiter geht’s flussauf. Nach insgesamt 2,5 Stunden erreichen wir Charque. Diesmal ist der Regen der vergangenen Tage unser Freund. Wir können den meist trocken liegenden Altarm soweit hinauf tuckern, dass es nur noch 15 Minuten Schlepperei inmitten von Bananenstauden sind. Da Charque kein sauberes, sondern nur Flusswasser hat, müssen wir für die Instrumente und Medikamente auch an Trinkwasser denken. Der Lehrer beauftragt die Kinder allen Familien Bescheid zu geben. Wir können nur bis max. 16.30 Uhr bleiben. Wir beginnen mit den Schulkindern – zuerst die Desparasitacion, dann die Zahnputzschule und zum Abschluss die Flourbehandlung der Zähne. Sonias Baby wird in eine Schubkarre gepackt und die großen Mädels kümmern sich. Dann rücken die restlichen Kinder samt Müttern und einigen wenigen Vätern an. Viele Erwachsene sind zum Steine und Holz holen in einem Camp oberhalb am Fluss. Wir haben trotzdem genügend zu tun.
Ich versuche den Hauptteil des Schreibkrames zu übernehmen, damit die Fachleute Zeit fürs Wesentliche haben. Ich habe Bilder vom letzten Jahr für die Kinder dabei – wie immer ein Riesengaudi für alle. Beeindruckend ist mal wieder eine Stachelrochen-Wunde. Auf den ersten Blick hatte ich gedacht, der Junge hätte sich mit der Machete tief in den Fuß gehackt. Aber der klaffende Spalt unterhalb der kleinen Zehe ist die Folge der Infektion, die der Stachel des Rochens hervorruft. Der Fünfzehnjährige war barfuß im Fluss fischen. Alle sind in der Regel barfuß. Vera Cruz reinigt die Wunde und eckt sie ab. Es sieht ganz gut aus, sie ist am Abheilen aber der Spalt wird wohl bleiben.
Fast pünktlich gegen 17.00 Uhr sind wir wieder auf dem Fluss. Wir wollen unbedingt noch rauf nach Torewa. Dort wollen wir für 2 Nächte unsere Zelte aufschlagen, dann müssen wir unsere Ausrüstung nur einmal schleppen. Bis jetzt haben wir Glück mit dem Wetter, obwohl sich um uns herum dunkle Wolken auftürmen. Der Rio Beni ist immer noch voll – vielleicht haben wir Glück und der kleine Zufluss neben Torewa ist befahrbar… Mit dem Zufluss haben wir kein Glück aber ein paar Leute helfen uns beim Tragen. Wieder geht es 25 Minuten durch Bananenfelder. Wir schwitzen und müssen trotz der Hilfe zweimal gehen. Denn auch hier gibt es keinen klaren Bach für sauberes Trinkwasser und das Wasser des Beni ist im Moment besonders schlammig. Wir brauchen also sowohl Trinkwasser für uns als auch Wasser fürs Reinigen der Instrumente und für die Medikamenteneinnahme. In „Torewa 1“ leben mehr als 40 Familien. Wir geben Bescheid, dass wir morgen ab 8.00 Uhr mit der Behandlung beginnen, dass bitte alle ihre Papiere mitbringen sollen (falls vorhanden) und die Kinder sollen eine Tasse für die Zahnputzkampagne mitbringen. Anschließend bauen wir gemeinsam Zelte und Küche auf, verschnaufen kurz bevor wir das Abendessen vorbereiten. Melvin wird wohl im Boot schlafen müssen. Der Fluss ist zu weit weg um zu hören, ob sich eine Flutwelle nähert. Nach wie vor gewittert es durchgehend in den Bergen. Die stundenlange „Lichtshow“ ist beeindruckend und unheimlich zu gleich. Bis Mitternacht sitzen wir zusammen bei Kerzenschein und einem Schluck Singani. Es gibt viel zu lachen. Mit dem Hellwerden hört man das Gebrüll der Brüllaffen. Ich liebe es! Denen verzeih ich sogar das viel zu verfrühte Wecken. Während wir frühstücken, stromern die ersten Schüler heran. 64 Schüler werden von drei Lehrern unterreichtet. Auch für Bolivien traumhafte Zustände. In Rurrenabaque sind zwischen 36 und 40 Schüler normal. Zunächst müssen alle zum Apell antreten, die Hymne schmettern, militärische Kommandoübungen trainieren, weiter singen und schließlich in die „Klasse“ marschieren. Da in der Schule sowieso Bänke und Tische fehlen, müssen wir erstmal Mobiliar für die Sprechstunde zusammensuchen, hier eine Bank, dort ein paar Holzklötze und da sogar einen Tisch! Auch die meisten Familien haben sich bereits komplett eingefunden. Wir beginnen klassenweise mit der Parasiten Behandlung – eine Tablette + ein Schluck Wasser. Mit Zahnfärbetabletten wird deutlich, dass max. 2 oder drei die Zähne geputzt haben. Es gibt einfach wichtigeres(noch) als das Geld für Zahnbürsten und Zahncreme auszugeben. Aus kaffeebraunen Gesichtern grinsen und leuchtendblaue Münder an. Sonia übernimmt das Kommando und das „Vorturnen“. Wir helfen den Schüchternen und den Kleinsten beim Handhaben der Bürsten oder überzeugen der Mütter, ihnen zu helfen. Zum Abschluss bekommen die Zähne aller unter Zwölfjährigen noch eine Flourbehandlung.
Bevor wir die Behandlung beginnen, will Josello gern noch eine Kampagne zur Familienplanung ankündigen – am liebsten erstmal nur mit den Frauen. Dazu benötigen wir allerdings Hilfe beim Übersetzen ins Tsimane. Zwei Mütter erklären sich anfangs bereit, aber als es soweit ist, bringen sie kein Wort heraus. Wir wissen bereits, wie schüchtern die indigenen Frauen meist sind. Selbst wenn sie reden, versteht man sie kaum, weil sie so leise murmeln. Die anwesenden Männer springen sofort ein und übersetzen – obwohl das Thema delikat ist. Die Pille ist in den Dörfern einfach nicht praktikabel. Erfahrene Feld Teams bieten Alternativen, die längerfristig verhüten helfen, aber auch umkehrbar sind, an. Die Kampagne soll im Mai stattfinden – kostenlos. Für ältere Mütter (30-35 Jahre!) und natürlich Väter wird es auch die Möglichkeit einer Sterilisation geben. Das Ganze kann aber nur in der kleinen Klinik in Rurre stattfinden. Es muss also auch für den Hin- und Rücktransport zum entsprechenden Datum gesorgt werden. Strategische Schwerstarbeit!!! Nach wie vor sind 8 -10 Kinder oder auch mehr keine Seltenheit. Wir stoßen überwiegend auf positive Resonanz. Was aber leider über das endgültige Resultat überhaupt nichts aussagt. Man muss es einfach immer weiter versuchen!
So, jetzt geht’s aber los. Zuerst müssen alle zu Josello. Damit es einfacher wird und effektiver soll immer eine komplette Familie erfasst werden. Josello sucht zuerst nach bereits vorhandenen Krankenblättern oder legt bei Bedarf neue an mit Namen und Geburtsdatum. Dann wird gewogen, Blutdruck gemessen. Vollständiger Name, Geburtsdatum – alles Informationen, die nicht immer einfach zu beschaffen sind. Selbst Zwölfjährige fürchten sich zum Teil davor, sich auf die Waage zu stellen. Immerhin, wegen der relativen Nähe zu Rurre verstehen viele auch Spanisch.
Nach der Erfassung ist Vera Cruz der erste Anlaufpunkt. Als Rechtfertigung für die Behörden müssen alle samt Diagnose nochmal in extra Listen erfasst werden (1.+2. Familienname, Alter, Geburtsdatum, Geburtsort, Status, Anzahl der Kinder, Wohnort und z.T. Name der Eltern…) Selbstverständlich muss auch auf jedem Rezept Name, Diagnose usw. erfasst werden und es gibt keinen Computer, der das automatisch kopiert und ausspuckt. Die Zahnärztin hat wieder eine Liste und Carlos hat für die staatlichen Impfstoffe, Vitamine und Sumi-Medikamente nicht nur eine weitere Liste, sondern auch noch Ausgabebescheinigungen in A4-Format in vierfacher Ausführung auszufüllen. Ich springe quasi zwischen den Bänken hin und her und schreibe mir die Finger wund. Nach der Ärztin müssen alle Schwangeren, Babys und Kinder bis 5 Jahre zu Carlos – da kann ich die Formulare – „estilo aleman“ (deutsche Rationalisierung) – auch gleich alle auf einmal ausfüllen. Also sondiere ich auch schon mal den Impfstatus, so dass Carlos nur noch kontrollieren und schlussendlich Impfen muss. Daraufhin beginnt Carlos, nicht nur zu Impfen, sondern auch gleich alle Medikamente per Injektionen zu verabreichen, die Vera Cruz verschreibt. Wir perfektionieren das System im Verlauf des Tages weiter. Schließlich geben er oder ich auch noch Medikamente aus, da die Schlange an der Anmeldung nicht abreist und Josello im wahrsten Sinne des Wortes kein Land sieht. Er hat kaum Platz zum Schreiben, so dicht wird er umlagert. Eine Familie besteht gut und gerne aus 8-12 Personen. Nur wenige lassen sich die Chance auf den kostenlosen Arztbesuch entgehen, obwohl das „Einfangen“ der Kinder oft müßig ist. Mit Engelsgeduld versucht Vera Cruz heraus zu finden, wo der Schuh drückt. Nie reicht es nur einmal zu fragen. Das zähe Ringen um Informationen ermüdet. Optisch am auffälligsten sind die vielen Hautinfektionen, Beine oder Arme komplett blutig gekratzt und entzündet sowie die angeschwollenen Abszesse. Zwei-drei Abszesse müssen gespalten werden. Für die Infektionen wäre es oft am sichersten (und schnellsten) das Medikament intramuskulär zu verabreichen statt sich auf eine tagelange Tablettenkur zu verlassen (leider ist eine konsequente Einnahme der Tabletten oft unwahrscheinlich). Aber „Nadeln“ bringen Unglück. Schon das Träumen von einer Nähnadel oder einem spitzen Stachel ist ein sehr schlechtes Zeichen… Vor allem bei den Kindern ist es zum Verzweifeln, wenn die Mütter uns nicht tatkräftig mit einem Machtwort unterstützen. Wie wollen die denn die Tablettenkur durchziehen?!? Es ist eben eine völlig andere Welt. Aber es gibt auch immer mehr, die den Vorteil der Spritze unter diesen Lebensbedingungen anerkennen! Egal, wie es ausgeht, wir bleiben immer freundlich, versuchen geduldig, behutsam zu überzeugen, lachen gemeinsam. Aber es gibt auch Momente, in denen Vera Cruz oder Carlos richtig böse werden – wenn z.B. Langzeitbehandlungen im Hospital immer wieder abgebrochen wurden, z.B. bei Tuberkulose oder akuter Unterernährung mit extremen Parasitenbefall bei Kleinkindern. Es gibt da in „Torewa 1“ einen kleinen Jungen der seit drei Jahren bei jedem Besuch in einem so erbärmlichen Zustand ist. Die Mutter hält es im Krankenhaus einfach nicht aus.
Seit dem Morgen grollt der Donner in den Bergen, die Luft ist aufgeladen und stickig. Wir kleben am ganzen Körper. Die verda... Mariquis stürzen sich auf jeden cm freie Haut und wir tragen schon ständig lange Klamotten. Melvin verzückt uns geradezu, wenn er mit einer gekühlten Limonade aufwartet. Die Eisbrocken stammen vom Kühleis aus der Thermobox mit dem Fleisch. Aber eine geschlossene Kühlkette ist uns jetzt sowas von egal. Hier notiert auch niemand die Temperatur bei jedem Öffnen der Kühlbox, hier gibt’s außer dem Fieberthermometer auch kein anderes. Ich gebe einen kurzen Abriss zum Thema Lebensmittelvorschriften in Deutschland und erzähle von Thermometern und Temperaturlisten in den Kühlboxen beim Boofen in der Sächsischen Schweiz. Wir feixen und stürzen uns wieder in die Arbeit. Wir behandeln schon seit 6 Stunden durchgehend und noch immer kommen neue Leute dazu. Im allerletzten Tageslicht sitzt der letzte Patient vor uns. 91 behandelte Personen stehen allein auf unserer Liste, dazu kommen noch die Schüler, über 50 Zahnarztbehandlungen und die Impfpatienten. Die Leute verschwinden in der Dunkelheit und die Moskitos kommen. Wir kochen, essen und freuen uns auf unsere Isomatten. Aber vorher gibt’s bei Kerzenschein noch die besten Anekdoten des Tages. Kurz vor Mitternacht holt uns endlich das Gewitter ein und verschafft uns die lang ersehnte Abkühlung.
Neuer Morgen, neues Torewa. Frühstücken, zusammenpacken, Zeug zum Boot schleppen, schwitzen. Der Rio Beni ist weiter gestiegen. Melvin hatte zur Sicherheit wieder im Boot geschlafen. „Torewa 2“ oder „Torewa indigena“ liegt stromaufwärts und wir können wegen des hohen Wasserspiegels fast bis zur Schule fahren!!! Gott sei Dank! Es sind nur wenige Familien da und das Dorf ist wesentlich besser organisiert als sein Namensfetter. 12.30 Uhr sind wir wieder auf dem Boot, essen während der Fahrt. Wir wollen unbedingt noch in Embocada anhalten. Auch wenn es uns vor dem Weg zum Dorf gruselt. Mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch durch Bäche und Schlamm bei drückender Hitze. Ok, wir brauchen nur die Medikamentenkisten und Instrumente schleppen und sauberes Wasser und Zahnbürsten und -pasta für alle…. An der Anlegestelle von Embocada werden wir tatsächlich schon erwartet. Die Männer haben bereits alle Boote an Land gezogen, denn der Fluss steigt immer noch und treibt rasend schnell Unmengen von Treibholz an. Melvin sucht besorgt nach einem sicheren Liegeplatz für unser Boot. Man sagt uns der Pfad ins Dorf sei so überschwemmt, dass sie lieber zum Fluss gekommen sind. Wir sind erleichtert – wird eben eine Dschungel Klinik aufgebaut. Umgekippte Boote und Bretter dienen als Sitzbank und Schreibtisch. Ein fast zahmes Totenkopfäffchen macht das Treiben verrückt. Zuerst springt es jedem auf Kopf und Buckel rum um schließlich zielsicher in der Medikamentenliste zu landen. Aber Oma spricht ein Machtwort und den Rest der Sprechstunde kommt der Nervzwerg an die Leine. Wie immer sind alle Arbeitsplätze dicht umlagert. Ich muss innerlich feixen. In einer unserer Präsentationen gibt es eine gefilmte Zahn-zieh-sequenz die regelmäßig zu halben Ohnmachten führt, theatralisch werden die Augen zu gehalten. Hier wird ganz genau hingesehen, je näher dran umso besser. Je mehr Menschen auf einem Haufen, desto dichter sind allerdings auch die Insektenwolken. Die Stiche werden noch tagelang an die Tour erinnern. Auch der Kleine von Sonia, der bei unserem Start glatte, weiche Haut hatte, ist im Gesicht und an den Händen ordentlichen zerstochen – wie alle in den Dörfern.
Wir haben noch 1.5 Stunden Tageslicht. Wir müssen uns aber hauptsächlich wegen des zunehmenden Treibholzes und der Wassermassen beeilen. Am Ende entscheidet Melvin als Motorista, ob die Canyons noch durchfahrbar sind. Wir haben Glück – am nächsten Morgen sperrt die Capitania von Rurre den Fluss für alle Boote.
Vielen Dank an unser fleißiges Team und an alle, die uns durch ihre Spenden die Medizinischen Versorgungfahrten und die Unterstützung der kleinen Klinik „Salud del Rio Beni“ ermöglichen! Bitte unterstützt uns weiter!