Und dann stirbst du halt...2018

Stellt euch vor, Ihr lebt in einer Kleinstadt – vielleicht 10.000 Einwohner. Eure Mutter/Frau hat seit Wochen stetig zunehmende Bauch- bzw. Unterleibsschmerzen. Ihr zögert zum Arzt zu gehen. Klar, das kostet! Allein der Besuch kostet einen Tageslohn, vielleicht, ohne Laboruntersuchungen. Und womöglich muss man ja danach noch Medikamente kaufen. Der erste Arzt, macht immerhin einen Ultraschall und diagnostiziert eine Schwangerschaft. Er hat nicht wirklich eine Ausbildung für sowas. Aber von den Einwänden eines ungebildeten Bauers von wegen regelmäßiger Menstruation u. ä. lässt er sich natürlich nicht beeindrucken. Da es nicht besser wird, der Bauch rasant wächst, die Menstruation regelmäßig bleibt, die Schwangerschaft also immer unwahrscheinlicher wird, entscheidet man sich schließlich schweren Herzens für einen Gynäkologen Besuch. Das Geld ist knapp, aber Gesundheit geht vor. Diesmal lautet die Diagnose erst auf „Scheinschwangerschaft“, dann sieht er etwas fremdes, Großes. Das „Etwas“ muss sofort operativ entfernt und analysiert werden – Einweisung ins Hospital – Sofort!!! Natürlich spukt der Familie sofort im Kopf herum, wie man das alles bezahlen soll…. Im Hospital ist gerade eine Delegation spanischer Ärzte eingetroffen. Alle sind furchtbar beschäftigt. Es gibt Begrüßungen, Besichtigungen und endloses Gerede. Die Zeit vergeht. Der nächste Schock: Für die Operation von Piquis Frau Surma werden 2 Liter Blut benötigt. Darum kümmert sich nicht etwa das Hospital – es gibt keine Blutbank. Die Familienangehörigen müssen das Blut besorgen. Piqui startet einen Aufruf per Lokalsender, schickt Nachrichten an die Familie seiner Frau – der Kostenberg wächst weiter, dazu kommt banges Warten. Immerhin inzwischen erscheint der Chefarzt des Hospitals (Dr. Torro) persönlich, liest den Überweisungszettel samt Diagnose und winkt abfällig ab. OP nicht notwendig. Er schickt Surma tatsächlich nach Hause! Da sie zu schwach ist zum Laufen muss sie auf ihren Mann warten. Als Piqui vom Lokalsender zurück ins Krankenhaus kommt, sitzt sie nach Stunden immer noch auf einer Bank in der Frauenabteilung. Piqui weigert sich, die Abfuhr hinzunehmen und sie haben unendliches Glück. Einer der spanischen Frauenärzte wird auf die beiden aufmerksam, lässt sich die ganzen Zettel zeigen und ist fassungslos. Von einer Minute zur anderen wird Surma zum Notfall. Sie gehört ganz oben auf die OP-Liste des spanischen Ärzteteams. (Leider ist es in Bolivien völlig unüblich jemanden offen zu kritisieren. Weshalb der Hospitalchef für seine eklatante Fehleinschätzung niemals zur Rechenschaft gezogen werden wird!!)
Es fehlen aber immer noch die Blutkonserven. Am Morgen soll operiert werden, aber keiner hat sich gemeldet. Piqui sucht jedes Familienmitglied persönlich auf und bettelt, dass sie sich testen lassen. Lockt sie mit dem Geld für die Spende, von dem er nicht weiß, woher er es nehmen wird. … bezahlt werden muss für jede Analyse! Am Nachmittag endlich die erlösende Nachricht: Es gibt 2 passende Spender – einer davon ist zum Glück Piqui selbst. Jetzt müssen die 2 nur noch wirklich spenden. Wieder verrinnen die Stunden. Surma bittet inzwischen darum, dass man „letzte“ Bilder von ihr und ihren Kindern macht. Sie glaubt nicht mehr daran, dass sie es schafft. Ich mag mir die Verzweiflung gar nicht vorstellen. Bisher scheiterte ihre richtige Behandlung - oder inzwischen Rettung - an Dingen, die bei uns so selbstverständlich sind – Krankenversicherung ist Pflicht (ist man arbeitslos, springt der Staat ein), Fachärzte, Blutbank…. Natürlich hat auch Surma bei all dem immer noch im Hinterkopf, wie sie jemals diese ganzen Rechnungen bezahlen sollen!
Das gespendete Blut reicht aus. Endlich, endlich kann operiert werden. Der Tumor wiegt über 8 Kilo und ist dabei, alle umliegenden Organe allein durch seine Größe zu schädigen. Piqui konnte uns weder eine genaue Diagnose noch irgendwelche Details nennen. Fakt ist, es war verdammt knapp! Wären die spanischen Ärzte nicht just an diesem Tag eingetroffen, wäre Surma nicht mehr am Leben. Hätte Piqui nicht die richtige Blutgruppe gehabt, hätte nicht operiert werden können – es gab nur einen weiteren passenden Spender. Und das aller beste: Das spanische Ärzteteam, als Teil einer NGO, hat Surma gratis operiert. So ist die finanzielle Last wenigstens am Ende nicht ganz so hoch.
Nun stellt euch vor, Ihr habt in dieser Kleinstadt einen Unfall, der eine sofortige Notoperation erfordert……
oder das Ganze passiert nicht in Rurrenabaque, sondern in einem der Dörfer, die wir während unserer Medizintouren besuchen. Ihr sterbt einfach – und das gilt als normal!

Start ins bolivianische Tiefland 2025 und Besuch bei Joselo

Endlich sitzen wir im Sammeltaxi auf dem Weg nach Rurrenabaque. Die Straße soll halbwegs in Ordnung sein und zumindest der Fahrer für die erste Teilstrecke hat genug Benzin. Mit uns im Auto sitzen Sonia, unsere Zahnärztin und ihr Sohn Estip. Der Kleine ist inzwischen 8 Jahre alt. Bereits mit drei Monaten war er mit uns auf Medizintour! Mit Sonia haben wir gestern in El Alto, der Millionenstadt oberhalb der Canyon-Kante von La Paz, Zahnbürsten, Zahnpasta, Anästhesiespritzen sowie diverse Dinge für unsere Medizintouren gekauft. Ein kleines Abenteuer für sich. El Alto ist total chaotisch, aber viel preiswerter.

Wir sind schnell, aber sicher unterwegs. Auf La Cumbre, dem höchsten Pass der Route mit 4700 m, liegt nur wenig Schnee, rundherum ist alles mit einer weißen Puderzuckerschicht überzogen. Nach reichlich einer weiteren Stunde haben wir knapp 4000 Höhenmeter verloren und schwitzen schon ordentlich. Nach 3,5 h müssen wir in Caranavi das Auto wechseln. Ab hier verkehren fast nur noch Chutos, Gefährte ohne Kennzeichen, Versicherung und Steuernummer, die illegal aus Brasilien oder Chile kommen. Illegal = normal! „Das haben wir schon immer so gemacht“ – einer der Gründe für die marode Infrastruktur und das Treibstoffproblem. Denn tatsächlich zahlen viele keine Steuern. So ist es fast unmöglich, Quittungen bei Einkäufen für unser Hilfsprojekt zu bekommen. Dem Staat fehlen die Einnahmen. Zudem wird z. B. Benzin seit Jahren subventioniert. Er (wer ist er? Besser „Bolivien“) kauft den Liter für 12 Bolivianos in den Nachbarländern ein. Für Einheimische kostet der Liter an der Tanke dann 3,70 Bolis und für Ausländer das Doppelte. Bolivien hat schlichtweg nicht mehr genug Geld, um Sprit zu kaufen! Im Moment ist die Knappheit besonders groß. Die Maßnahmen zur Regulierung muten oft grotesk an. An manchen Tanken bekommen nur Ausländer und Fahrzeuge mit Nummernschild eine bestimmte Literanzahl. An anderen darf nur in Kanistern verkauft werden. Dann zapft der Tankwart an der Säule 40 Liter in einen Kanister, schleppt diesen zum Fahrzeug und füllt dort mittels Schlauch das Benzin in den Tank um! An wieder anderen Tanken dürfen nur noch Leute tanken, die im Ort wohnen. Wir sitzen also in einem offiziellen Transportmittel einer offiziellen Transportvereinigung, mit ohne Nummernschild und Steuernummer. Wir passieren Kreis- und Bundeslandgrenzen und haben natürlich gar bald ein Benzinproblem. Wir halten an jeder Tankstelle. Irgendwann fragt der Fahrer nach unseren Ausweisen, da er denkt, wir wohnen in Rurrenabaque. Überrascht starrt er auf unsere deutschen Pässe. Damit müsste er ja den Ausländerpreis zahlen.  Die Tankstellen werden von der Armee bewacht und Soldaten haben immer Hunger… Als wir irgendwann das einzige Fahrzeug sind, leiht er sich für 20 Bolivianos den Ausweis eines Soldaten, der aus der Gegend stammt. Nun kommen wir zumindest bis zum Ziel. Wie er dann zurück kommt nach Caranavi kommt, wird spannend! Todo es posible, nada es seguro!

Während Sonia und ihr Sohnemann direkt nach Rurre fahren, biegen wir Richtung San Borja ab. Wir haben eine Mission zu erledigen, ein Herzensprojekt! Viele von euch haben unseren Hilferuf im November mit Spenden unterstützt. Joselo, Kopf und Herz unserer medizinischen Versorgungsfahrten, war auf seinem Moped von einem großen Motorrad kurz vor seinem Haus umgefahren worden. Der 23 Jahre alte Fahrer, betrunken, ohne Führerschein mit illegalem Fahrzeug ohne Versicherung, blieb unverletzt. Der Aufprall brach den Oberschenkelknochen Joselos. Er wurde vom Fahrzeug katapultiert, brach sich dabei das Schlüsselbein. Die Einblutungen im Kopf wurden erst viel später festgestellt. Der Unfall geschah gegen 19.00 Uhr. Es dauerte bis 2.00 Uhr nachts, ehe sich endlich der Krankentransport vom Hospital San Borja in die Provinzhauptstadt Trinidad in Bewegung setzte. Unter anderem, weil die Familie erst die Kosten der Erstversorgung und für den Transport aufbringen musste. So viele Stunden verschenkt!!! Bis dahin gab es weder ein Röntgenbild oder irgendwelche Maßnahmen, um mögliche Schäden am Kopf festzustellen. Je mehr wir hören, um so unvorstellbarer wird das Szenario für uns mit unseren deutschen Selbstverständlichkeiten! 3 weitere Tage musste die Familie kämpfen, dass endlich ein Neurologe ein Kopf-CT veranlasste. Joselo konnte ja sprechen, schleppend zwar… Dass Joselos Sprachzentrum gestört war und seine Antworten und Aussagen völlig unsinnig und zusammenhanglos waren, hat man der Familie nicht geglaubt. Man hat sich voll auf den offenen Oberschenkelhalsbruch konzentriert.

Heute erwartet er uns STEHEND am Eingangstor!!! Wir sind einfach nur erleichtert! Monatelang konnte er nur liegen, zu schwach zu allem und zu groß waren die Schmerzen. Der Schlüsselbeinbruch ist von selbst fast ordentlich zusammengewachsen. Jetzt kann er auf Krücken gehen. Die zwei OP‘s am noch steifen Bein waren erfolgreich und die Narben sind gut verheilt…und er ist geistig voll fit, spricht fast noch schneller als früher…;))

Als wir ihm zwei Stunden später die ausschließlich für ihn gespendete Summe nennen, wird’s emotional. Erst ungläubige Blicke, dann vorsichtiges Nachfragen, dann Freudentränen… Er kann es nicht fassen – so viel Geld! Einen Teil hatten wir sofort überwiesen. Den größten Teil haben wir nun in bar dabei, damit nicht zu viel verloren geht durch Gebühren und schlechte Umtauschkurse. Er will sofort an jeden persönlich einen Brief schreiben. Und auch sofort mit den Vorbereitungen für die nächste Medizintour beginnen. Bei letzterem haben wir seine Hilfe freudig in Anspruch genommen. Ersteres haben wir ihm ausgeredet und versprochen einen kleinen Text zu schreiben und euch allen in seinem Namen zu danken.

Deshalb nun also dieser etwas ausführlichere Bericht. Vielleicht hilft es zu verstehen, was ihr für Joselo und seine Familie getan habt, was es ihnen bedeutet! Er hatte viel Glück und Euch!