Ich glaub, ich hab gerade jemanden sterben sehn….
San Jose de Uchapiamona März 2022
… die einzige indigene Comunidad, welche mitten im Madidi Nationalpark Boliviens liegt – da, wo der Tieflandregenwald bereits in schroffe Hänge, überzogen mit Bergurwald, übergeht. 2016 waren wir zum letzten Mal in medizinischer Mission hier unterwegs. 1616, vor über 400 Jahren, siedelten sich die Vorfahren der heutigen Bewohner (Quechua-Tacana) hier an, damals als Franziskaner-Mission. Die über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen sind ein krasser Gegensatz zu den im Vergleich sehr jungen Gemeinden am Rio Quiquibey oder Rio Beni. Früher verbanden Urwaldpfade den Ort mit Gemeinden im östlichen Hochland. Später war die einzig mögliche Zufahrt eine 10-stündige Bootsfahrt von Rurrenabaque zunächst den Beni und weiter den Rio Tuichi hinauf. Die An- und Abreisekosten überstiegen am Ende für eine einzelne Comunidad einfach unser Budget.
Seit 2020 gibt es nun eine preisgünstige Alternative. Die 35km zwischen S.J.U. und Tumupasa an der Straße nach Rurre sollen seit 2020 tatsächlich auch in der Regenzeit befahrbar sein. Wir sind bissl skeptisch – zu Fuß haben wir die abenteuerlichen 35 km schon 4-mal zurückgelegt, immer mit schwerem Rucksack, manchmal mit Packraft-Booten im Gepäck und Paddeln als Treckingstöcke….
Ein „Autito“, so nennen die Bolivianer die Sammeltaxis der Marke „Toyota Ipsom“, soll uns um 8.00 Uhr einsammeln. Macht es natürlich nicht, weil erstmal …… muss es in die Werkstatt! Na gut, also 1,2 oder 3 Kaffee mehr. Wir sind zu fünft plus Medikamente, Zelte und Rucksäcke. Küchenausrüstung brauchen wir diesmal nicht mitnehmen, wir werden bekocht. Sonia, unsere Zahnärztin, muss Sohn Estip mitnehmen, da sie keine Betreuung gefunden hat. Kein Problem – die beiden kommen auf die hinterste Sitzbank + Taschen. Die mittlere Bank teile ich mir mit Joselo und Doctora Wini. Torsten nimmt neben dem Fahrer Platz. Die Medikamentenkisten kommen aufs Dach. Völlig überraschend erreichen wir bereits nach gut 70 Minuten den Abzweig nach San Jose. Für 50 km nicht schlecht! Nun liegen 2 Pässe, um die 600m hoch, und mehrere Flussquerungen vor uns – im PKW „Ipsom“. Nach 10 Minuten laufen wir zum ersten Mal, das „Autito“ schafft mit uns die Steigung sonst nicht. Während wir uns auf der Kuppe ordnungsgemäß ins Nationalpark Register eintragen, kühlt der Motor wieder ab. Immerhin sind die Flüsse so klar, dass keiner sie vorher queren muss, um die Durchfahrt auszuloten. Aber jedes Mal müssen große, runde Flusssteine umgeschichtet werden, um höhere Abbrüche an der Uferkante auszugleichen. Das Wasser steht nicht zu hoch. Nach 2 Stunden sind die 35 km vorbei! Wahnsinn! Wir werden schon erwartet und sollen erstmal essen. Aber erstmal staunen wir nicht schlecht, nach jahrelangen Kämpfen haben die Dorfchefs erreicht, dass die Gemeinde ans öffentliche Stromnetz angeschlossen wird. Jede Familie hat Strom und dazu auch fließend Wasser. Was noch viel wichtiger ist! Außerdem gibt es statt Radio-Funk inzwischen hier Telefonnetz und sogar Internet!
Und trotzdem sind sie auf unseren Besuch angewiesen. Nach Chinin-Anbau und Holzwirtschaft hatte sich das Dorf mit Gründung des Nationalparks quasi umgekrempelt. Mit dem Projekt „Chalalan“ am Rio Tuichi hatte es, dank ausländischer Hilfe, die erste Ökolodge in Bolivien aufgebaut. Wald schützen statt ausbeuten! Der nachhaltige Tourismus hat viele Familien gut ernährt und der Gemeinde trotz Isolation geholfen. Dann kam Corona… Seit 2 Jahren keine Gäste! Für Arztbesuche und Medikamente braucht man zunächst genügend Geld für die Reise, dann Geld für die Apotheke. Schulsachen kosten Geld, einfach alles… Durch die isolierte Lage wird alles noch teurer. Das macht mürbe, der Glaube an Vorteile durch Naturschutz bröckelt massiv. Man sollte vielleicht doch lieber Konzessionen für Goldsucher verscherbeln. Woanders haben die das doch auch gemacht….
Als wir am frühen Nachmittag zum Gesundheitsposten kommen, warten bereits die ersten Patienten. Routiniert improvisieren wir den Anmelde-Tresen für Joselo „im Vorzimmer“. Richten einen der Räume für Sonia her und in dem anderen werden Doctora Wini und ich arbeiten. Torsten baut die Apotheke direkt auf der Krankenliege neben uns auf. Das spart Ressourcen, da nur einmal erklärt werden muss. Wini erklärt, Torsten sucht die Medikamente raus, dosiert und ich stelle gleichzeitig das Rezept mit der „Gebrauchsanweisung“ aus. Dank der Mission gibt es auch unter den Alten keine wirklichen Analphabeten im Dorf. Völlig ungewohnt sind die vielen alten Patienten für uns. Viele sind über 70. Die älteste Patientin in den folgenden Tagen ist 88 Jahre alt! Doctora Wini ist gerademal 29 und wir staunen nicht schlecht, wie sie für jeden den passenden Ton findet. Mal sanft, mal bestimmend, mal einen lockeren Spruch für den Macho, mal einen neckigen Scherz. Obwohl sie das erste Mal mit uns unterwegs ist, verstehen wir uns auf Anhieb. Die fröhliche Atmosphäre nimmt den kleinen und großen Patienten die Angst und dem Leiden etwas den Schrecken. „Doktor Raton“, meine kleine Fingerpuppe, hat beim Verteilen der Wurmkur wieder volles Programm. Ok, in der Zahnarztsprechstunde wird’s auch hier ziemlich schmerzhaft. Sonia wird trotz allem überrannt mit Anfragen. Es ist bereits stockfinster, als wir 20.00 Uhr die letzten Instrumente desinfizieren. Kurz vor Schluss waren noch 9 Stiche notwendig – ein Badeunfall. Das Schlimmste war – wie bei uns auch – die Betäubungsspritze. Für morgen haben wir bereits eine lange Warteliste. Vergnügt und zufrieden schlendern wir über die grasbewachsenen „Straßen“ zum Comedor und sind gespannt aufs Abendessen. Immerhin gibt es in San Jose - dank „Chalalan“ - viele ausgebildete Köche und Köchinnen. Eigentlich wollten wir heute noch gemeinsam die Biwak-Staffel des MDR vom August 2020 auf dem Laptop anschauen. Das bolivianische Team hat seine Folge noch nie gesehen. Aber nach dem super leckeren Abendessen sind wir einfach viel zu müde.
Neuer Morgen neue Aufgabe. Die Schulglocke hat bereits geschlagen. Mit der Kaffeetasse in der Hand beobachten wir die Schulkinder und werden dabei selbst neugierig zurück beäugt. Eine Viertelstunde später stehen wir 40 kichernden Grundschülern gegenüber, schön aufgereiht nach Klassenstufen. Natürlich hatten auf Sonias Nachfrage ALLE ihre Zähne geputzt, IMMER!!! Und nun – blitzeblaue Schnuten wohin das Zahnarztauge blickt. Umso besser natürlich für den nun zu demonstrierenden erfolgreichen Putzvorgang. Danach gibt’s einmal Fluor für alle bis 11 Jahre. Die meisten Kids stecken den eigenwilligen Geschmack locker weg. Aber ein paar Mädels leiden wirklich filmreif mit Zusammensinken und großer Gestik. Das hatten wir noch nie. Gab wohl zu viel Telenovela im TV.
In der Oberstufe gibt es weniger Schüler und man ist wesentlich cooler. Am Ende bringt Sonia kaum noch ein Wort heraus, so heißer ist sie. Ihre Stimme war schon gestern stark angeschlagen. Sie hatte sich am Vorband sogar eine Spritze geben lassen. Natürlich waren alle der Meinung, dass sie zu Karneval(vor drei Tagen) zu viel getanzt und gesungen hat. Auf dem Weg zur Sprechstunde, erzählt sie uns dann, dass aus ihrem Dorf keiner getanzt und gesungen hat. Der junge Mann, der uns am Beni letzte Woche noch mit der Schlepperei unserer Ausrüstung in Torewa geholfen hatte, war am Sonntag mit seinem Pequepeque(Einbaum mit Zweitaktmotor), voll beladen mit Bananenstauden, zum Sonntagsmarkt nach Rurre gefahren, samt Familie. Im Suse-Canyon, kurz oberhalb von Rurre, ist das Boot in einem der Remolinos(Monsterstrudel) plötzlich gekentert. Die Fracht hat seine Frau und die beiden Kleinen mit in die Tiefe gerissen. Der Fluss war nicht voller als vorher. Vielleicht war das Boot überladen, vielleicht… Sonia ist heißer, weil sie tagelang im Regen flussauf und flussabwärts nach den drei Leichen gesucht haben. Nur der Vater hat überlebt. Inzwischen sucht die Armee weiter. Puh, alle sind erstmal völlig verdattert. Wir alle waren nicht in Rurre zu Karneval und haben nichts mitgekriegt. Letzte Woche haben wir die Familie noch behandelt!
Inzwischen stehen wir vorm Gesundheitsposten und die Lebenden holen uns zurück ins hier und jetzt. Hier und jetzt können wir was tun! Naja, das schreibt sich jetzt leichter, als es für uns war.
Aber die 20 bereits wartenden Patienten lassen tatsächlich keine Zeit zum Grübeln. Das Wellblechdach verwandelt die Hütte in einen Backofen. Kein Windhauch bringt Linderung. Jeder weitere Patient heizt die engen Räume weiter auf. Der Andrang reißt nicht ab. Sonias Sohnemann, 5 Jahre alt, tobt mit den Dorfkindern durch die Gegend. Seine Mutter kann unbesorgt behandeln. Nur ab und an braucht er dringendst einen neuen Luftballon von uns. Nach Schulschluss kommen vermehrt Mütter mit Kindern. Es zeichnen sich 2 große Baustellen ab: Zum einen ein überproportional hoher Anteil von Zahnproblemen. Über ein Drittel der Schüler hatte heute Morgen eine „Überweisung“ bekommen. Dazu kommen noch so einige Erwachsene, die sich trauen. Mit meiner Stirnlampe auf dem Kopf (es geht kein Licht im Zimmer) schwitzt sie in dem kleinen, stickigen Räumchen. Gerade „kämpft“ sie mit den Zähnen eines Jungen. 3 müssen noch raus, aber sie zerbröseln ihr förmlich unterm Werkzeug. Also fischelt sie Stückchen für Stückchen einzeln heraus. Nix darf zurückbleiben – wir sind ja nur noch einen Tag da. Die Mutter leidet mit. In meinem Hinterkopf wächst eine Idee heran: Wie wäre es, wenn Sonia z.B. aller 2 Monate zur Sprechstunde herkäme. Liese sich das organisieren und vor allem auch finanzieren? Mal sehen, was Joselo dazu meint… und natürlich Sonia!
Die andere Großbaustelle heißt Bluthochdruck. Eine Erkrankung, die wir in den anderen Dschungeldörfern so gut wie nie angetroffen haben. Ok, es gibt hier viel mehr alte Menschen. Doch gut ein Drittel unserer Patienten leidet darunter und manche sind noch recht jung. An mangelnder Bewegung kann es nicht liegen – Feldarbeit bedeutet Handarbeit. Ernährung also? Der Verzehr von frischem Obst(obwohl vorhanden) ist nicht üblich, auch Gemüse wird kaum gegessen. Reis, Yucca, Hühnchen, Eier, Rind…. Weniger Salz könnte laut Doctora Wini auch helfen. Als es dem Dorf noch gut ging, haben viele auch Medikamente bekommen. Einige haben noch leere Packungen mitgebracht. Für den Moment haben wir Medikamente dabei – für 10 Tage/ 2 Wochen pro Patient. Und dann? Außerdem wäre es schon sinnvoller, statt der Symptome die Ursachen zu bekämpfen. Das macht man nicht in 20 Minuten Patientengespräch. Unser Gedankenkarussell dreht sich.
Nachmittags machen wir einen Hausbesuch, Franziskus fiel mit 2 Monaten aus der Hängematte. Seit dem ist der 11jährige schwerstbehindert – Cerebralparese. Bis auf etwas Husten und die üblichen Darmparasiten ist er gesund. Natürlich würde er unter anderen Umständen wesentlich mehr gefördert werden. Winis beste Freundin ist Physiotherapeutin in La Paz und Spezialistin. Sie bittet sie um ein paar einfache Übungen zur Mobilisierung der Extremitäten von Franziskus für die Mutter. Das wurde noch nie gemacht und die Mutter ist sehr unsicher, will es aber versuchen. Mhm, eigentlich müsste regelmäßig jemand nachsehen. Da gibt es seit Jahren einen Gesundheitsposten, aber keinen Arzt vor Ort. Natürlich würde sich kein privater Arzt hier niederlassen, also muss man beim Staat eine Arztstelle beantragen. Selbst wenn der Staat eine Stelle genehmigt, wer will schon in dieser Isolation und unter den Bedingungen arbeiten…. Wir hätten nicht gedacht, dass auch keiner nach San Jose will. Zwischen S.J.U. und den Dörfern am Quiquibey liegen Welten!
Eigentlich wollten wir heute vor dem Dunkelwerden aufhören, schon weil Sonia kein Licht im Consultorio hat. Aber es ist wieder fast 20.00 Uhr als wir am Esstisch zusammenkommen. Und wir werden schon erwartet. Bürgermeisterin, Präsident, Vizepräsident und Pedro als traditioneller indigener Bürgermeister wollen mit uns sprechen. Alle Funktionen sind ehrenamtlich. Natürlich wollen sie etwas von uns …. Wir gruseln uns immer ein wenig vor solchen Treffen. Über Jahre ist hier bei vielen der Eindruck entstanden, ausländische Organisationen haben immer Geld wie Heu. Wenn die Finanzierung für ein Projekt zu Ende ist, stirbt oft auch die gesamte Idee und man sucht einfach die nächste Organisation und beginnt das nächste Projekt…. Unzählige gestorbene Projekte, die immer nur so lange funktionierten, wie sie in NGO-Hand waren. Traurige Realität vieler Jahre Entwicklungshilfe. Aber auch wir haben den Stein der Weisen da nicht gefunden. Also erstmal besser machen, statt Nörgeln. Nur wer nichts macht, macht keine Fehler!
Zunächst bedanken sich alle bei uns im Namen aller Bewohner und bitten, dass wir wieder regelmäßig kommen. Das werden wir tun, so lange es notwendig ist und wir genügend Spendengelder bekommen. Wir erklären ihnen unsere Idee mit der Zahnarztsprechstunde: Sonia kommt aller 2 Monate. Die Comunidad muss den Transport absichern. Regenzeit übernimmt die Kosten. Sonia erstellt eine Liste mit möglichen Behandlungen unter den aktuellen Umständen nebst Preisen. Auf Grund der aktuellen Situation werden die Preise subventioniert von uns mit 50%. Verpflegung bezahlt Sonia selbst – wird aber mit bekocht. Zudem ist die Übernachtung für sie zu stellen. 2 x pro Jahr gibt es eine Zahnhygiene – Kampagne in der Schule mit Zahnbürsten für alle Schüler. Das ist unser Vorschlag. Es wird nicht alles verschenkt, sondern jeder muss seinen Beitrag leisten. Die 4 sind begeistert. In der anstehen Dorfversammlung wird das Angebot diskutiert werden.
Inzwischen gibt es einen ersten Entwurf der Vereinbarung – wir halten Euch auf dem Laufenden. Viel mehr könnte Sonia natürlich anbieten, wenn wir ihr so eine mobilen Zahnarztkoffer besorgen könnten. Der funktioniert mit Druckluftpatrone. Sie hat auch schon für Kanadier damit gearbeitet.
Dann gibt’s eine positive Überraschung. San Jose hat für 2022 vom Staat ein Item (eine staatlich bezahlte Stelle) für einen Arzt bekommen! Und sie haben einen Arzt gefunden, der sich vorstellen könnte, hier zu arbeiten. Allerdings ist das Item an Bedingungen gebunden. Der Arzt wird vom Staat bezahlt, aber die Gemeinde muss für seine Unterkunft, seine Verpflegung, und 2x monatlich für seine Fahrt nach Rurre aufkommen!? Hä, der Arzt ist der Einzige, der überhaupt ein regelmäßiges Einkommen hat, dazu noch besser als jeder im Dorf und kann sich sein Essen nicht selber kaufen? Wir fragen 3x nach. Wenn die Gemeinde das nicht organisieren kann, kommt er nicht und sie verlieren die Arztstelle sofort wieder. Ein Dilemma! Ein Dorf ohne Einnahmen – woher soll hier Geld kommen? Da wären wir wieder bei Konzessionen für professionelle Minenfirmen…… Das Übernachtungsproblem ist gelöst. Uns bitten sie wegen der Verpflegung um Hilfe. Monatlich soll eine andere Familie das Kochen für einen fixen Betrag übernehmen. So haben sie monatlich reihum eine kleine Einnahme, überhaupt eine Einnahme z. B. für Schulmaterial. Ok, das klingt gut und durchdacht. Wir bitten um Bedenkzeit. Inzwischen ist der Vertrag unterschrieben. Bis Dezember übernehmen wir den Verpflegungsanteil unter Auflagen.
Beim Transport steigen wir aus. Wir werden kein Motorrad finanzieren, mit dem ein Arzt dann einmal im Monat hin und her fährt. Was wird mit dem Motorrad in der restlichen Zeit? Wer wartet es? Was passiert, wenn es kaputt geht? Wer zahlt die Ersatzteile. Viel zu viel Konfliktpotential! Auch beim Problem mit den Goldschürfer-Firmen können wir nicht helfen. Sie haben bereits verschiedene Umweltschutzorganisationen/Institutionen um Hilfe gebeten: WCS, Amazonas verde, diverse ausländische Botschaften. Dafür sind wir ein zu kleines Licht.
Nach 3 Stunden sind wir alle recht zufrieden mit dem Ergebnis. Wir haben also eine Menge Hausaufgaben, wenn wir in Rurre zurück sind.
8.30 Uhr werden wir bereits am Gesundheitsposten erwartet. Sonia hat noch eine Warteliste von Patienten, die gestern vergeblich warteten. Joselo nimmt bereits die nächsten Patienten für die Ärztin auf. Wir kalkulieren so bis 13.00 Uhr ein. Natürlich nur, wenn alle wartenden Patienten bis dahin behandelt sind. Ein paar Medikamente sind bereits alle, aber es gibt Alternativen. Man weiß vorher halt nie, was einen erwartet und jeder Arzt bevorzugt andere Arzneien.
Während Sonia noch behandelt, sind wir bereits bei der Bestandsermittlung für die Abrechnung, als eine junge Frau vor uns steht. Sie bittet um einen Hausbesuch beim Nachbarn. „…un hombre es un poco mal…“ Einem Mann geht’s bisschen schlecht. Wir versprechen zu kommen, wollen nur noch kurz zu Ende zählen. Noch Stunden später fragen wir uns, ob wir an der Formulierung was missverstanden haben. Rodrigo, um die 40, der gestern noch bei uns in der Sprechstunde war, liegt mit völlig verdrehten, verkrampft zitternden Armen und Beinen auf dem Bett. Er hat keine Kontrolle mehr über seine Körperfunktionen. Es riecht fürchterlich. Wini versucht gerade seinen Kopf so zu drehen, dass er nicht an seinem Erbrochenen erstickt. Seine Frau ist leicht geistig behindert und mit der Situation völlig überfordert. Sie realisiert nicht, was vor sich geht und wir bekommen nicht wirklich raus, was passiert ist. Ist ihr Mann gestürzt? Nein! Oder doch, ja aus dem Bett! Verzweifelte Situation! Dr. Wini testet mit der Lampe die Augenreflexe. Nichts! Auch dieser Kontakt zum Hirnstamm ist unterbrochen.
Im Dorf gibt es drei Autos und die Vereinbarung, dass bei Notfällen für den halben Preis der Krankentransport reihum garantiert wird. Das System funktioniert. Innerhalb weniger Minuten ist der PKW da. Regenzeit übernimmt die Kosten. Wini spritzt ein stabilisierendes Mittel. Das Krankenhaus in Rurre ist informiert. Als Rodrigo in einer Decke zum Auto getragen wird, steigt in mir ein bitterer Gedanke auf: „Ich glaub, ich hab gerade jemanden sterben sehen!“ Vor ihm liegen Stunden Offroadpiste mit Flussquerungen auf der Rückbank eines PKW. Einen Patienten wie ihn, würde in Deutschland bis zum Eintreffen des Hubschraubers…. Selbst wenn er den Transport überlebt… Eigentlich weiß ich es auch ohne Doctora Winis vernichtende Prognose… Zu spät, zu wenig, zu…. Hilflos! Zum ersten Mal in diesem Jahr will ich für einen Moment nicht mehr. Die Fachleute mögen mir meine mangelhaften medizinischen Beschreibungen verzeihen. Natürlich gehen Mediziner anders damit um. Am härtesten hat mich, denk ich, die Erkenntnis getroffen, dass der Tod die einzig gnädige Lösung ist. Tut mit leid!
Und nun? Wie kommt man da jetzt raus? Aufstehen – Weitermachen…. Vor dem Gesundheitsposten sitzt eine Mutter mit ihrer 14jährigen Tochter. Irgendwann heute Morgen hatte sie uns erzählt, dass ihre Tochter sich weigert, einen Arzt aufzusuchen, trotz größer werdender Probleme. Wir ahnten ein Frauenproblem und baten sie, die Tochter zu überzeugen… Jetzt ist sie tatsächlich da. Wir hatten nicht mehr daran geglaubt. Das ist doch ein Erfolg!
Wir werden nicht über die Straße, sondern über den Rio Tuichi zurückkehren. Eine Nacht werden wir noch mit dem Team gemeinsam im Ecocamp Beracco verbringen. Als Dankeschön und außerdem wollen wir heute Abend endlich die BIWAK Sendung gucken. Dann wird Melwin die anderen flussabwärts nach Rurrenabaque bringen, während Torsten und ich noch ein paar Tage im Camp helfen werden. Dschungelpfade für die hoffentlich 2022 wieder eintreffenden Touristen reaktivieren, Fischen, Tiere beobachten, runter kommen….
Wir werden Euch über die neuen Projekte auf dem Laufenden halten. Unser Dank gilt dem Team vor Ort und euch zu Hause. Ohne Eure Unterstützung wäre keines unserer Projekte möglich!