Medizinische Hilfe Rio Quiquibey - März 2014
Seit der letzten Überflutung war das Wetter gnädig: gelegentliche Regengüsse wie zur Regenzeit üblich und dazwischen Sonnentage wie in der Dampfsauna. Da der Quiquibey ein recht kleiner Zufluss des Beni ist, befürchteten wir schon, dass wir das Boot – wie im letzten Jahr – sehr oft schieben müssten. Wir starten fast pünktlich um 9.00 Uhr. 100 Flusskilometer liegen vor uns. Roman vom Hospital Rurrenabaque unterstützt uns als „Impfer“ und hat Milch-Vitaminpulver aus dem staatlichen Hilfsprogramm dabei. Melwin ist Motorista und „Küchenchef“. Wegen einer bolivientypischen Planänderung muss Torsten während der Fahrt die ganze Zeit als Puntero (der Mann in der Bootspitze) fungieren. Phillipe, Nicolai, Anna und Orlando bilden das Ärzteteam.
Die Mündung des Quiquibey ist noch immer stark versandet und Unmengen von Treibholz (in Baumgröße) liegen kreuz und quer im Flussbett und stapeln sich am Ufer zu hohen Barrieren auf. Bereits die ersten 500 Meter sind knifflig. Melwin steht mit zusammengekniffenen Augen in der prallen Sonne am Motor. Torsten sitzt rittlings auf dem Bug, „liest“ die Strömung und stakt mit einer Holzstange, um die Wassertiefe anzuzeigen. Meter für Meter kämpft sich das Boot gegen die Strömung flussaufwärts. Manchmal müssen wir in den Baumfriedhöfen einige Zeit nach einer Durchfahrtsmöglichkeit suchen. Manchmal muss Melvin im letzten Moment den Motor aus dem Wasser reißen. Wir kommen nur langsam vorwärts. Überall machen wir Spuren aus, welche die gewaltigen Wassermassen hinterlassen haben. An der Uferlinie erkennt man deutlich die neuaufgetürmte Sandschicht – vor allem auf den kleinen Dschungelfeldern. Auch hier am Quiquibey sind die Ernten verloren einschließlich der Böden, Pflanzen und Samen. Die Menschen müssen ganz neue Felder anlegen. An anderer Stelle hat der Rio Quiquibey meterweit Land „gefressen“. Hütten stehen plötzlich knapp an der Uferkante statt im Hinterland. Am meisten beindrucken mich die direkten Durchbrüche. Wo der Quiquibey früher in riesigen Schleifen mäanderte, hat die Wucht des Wassers die schmalen Urwaldzwischenstücke einfach hinweg gefegt. Entstanden sind kanalähnliche Abkürzungen. Die nun vom Fluss abgeschnittenen oft kilometerlangen Altarme werden zu Lagunen oder trocknen aus. San Luis Chico, mit 20 Familien im Moment die größte Gemeinde am Fluss, lag genau im Zenit einer solchen Kurve. Schon früher musste man fast 20 Minuten laufen, um vom Ufer ins Dorf zu kommen – kein Vergnügen mit der ganzen Ausrüstung. Jetzt liegt das Dorf praktisch überhaupt nicht mehr am Fluss. Wenn der Altarm in einem Monat völlig trocken liegt, beträgt der Fußweg mehr als das doppelte und alles, was die Menschen brauchen, muss von den Booten in die Comunidad geschleppt werden. Der Anblick dieser Naturgewalten ist faszinierend und gruselig zu gleich. Nach 7 Stunden Fahrt müssen wir einsehen, dass wir unser Ziel heute nie und nimmer erreichen. Torsten und Melvin platzt schon der Kopf vom Starren auf die spiegelnde Wasserfläche unter gleisender Sonne. Vor den nahen Bergketten stapeln sich Gewitterwolken. Ein wenig Zuschusswasser würde die Fahrt für morgen wirklich entspannen!
Wir legen in San Bernardo an. Wir haben schon früher hier übernachtet. Die Männer helfen beim Gepäck schleppen, während die Frauen flugs eines der Palmdächer für uns herrichten und geflochtene Matten und sogar 2 Bänke bringen. Während die Bootsmänner verschnaufen können, beginnt die Behandlung. Obwohl nur vier Familien hier leben, dauert die Sprechstunde ewig. Der Grund sind Sprachschwierigkeiten. Da nur einer der Männer wirklich spanisch spricht, können Impfer, Arzt, Zahnarzt, Apotheker nur nacheinander agieren. In der Abenddämmerung bauen wir unsere Zelte auf. Gewaschen wird sich im klaren Bach. Melwin hat einen riesigen Topf Eintopf gekocht. Müde und satt hocken wir noch die halbe Nacht zusammen und erzählen. Um uns herum toben die Gewitter. Nach Mitternacht erreicht der Regen unser Camp.
Erster Blick aus dem Zelt am nächsten Morgen: Grau und Regen – dafür keine Sandfliegen und keine Dampfsauna. Wir rutschen die schlammige Böschung hinunter. Nach zwei Gängen sind wir alle klitschnass geschwitzt. Der Fluss ist etwas gestiegen, zum Glück. In San Luis Grande werden wir schon erwartet. Helfende Hände machen der Schlepperei ein schnelles Ende. Man freut sich uns zu sehen. Der Gesundheitsposten ist in Ordnung. Wir müssen allerdings dringend Medikamente aufstocken. Dank der Medikamentenspende der Deutschen Botschaft haben wir ausreichend Reserven. In den nächsten Wochen sollen in der Klinik in Rurrenabaque ein oder zwei neue „Promotoren de Salud“ ausgebildet werden. Wir versprechen, als „Projekt Regenzeit e. V.“ die Kosten für Ausbildung, Verpflegung und Transport zu übernehmen. Jetzt liegt es in den Händen der Dorfbewohner.
In den nächsten Tagen behandeln wir in Bolson, San Luis Chico, Credal, Corte und Bisal. Zum ersten Mal gibt es eine Zahnkontrolle bzw.-behandlung in allen Dörfern. Bei dem ein oder anderen jugendlichen männlichen Dorfbewohner erfordert das viel Überredungskunst. Dank der Färbetabletten können wir überzeugend den Effekt des Zähneputzens demonstrieren. Mal abgesehen davon, dass so ein strahlend blaues Lächeln und der Blick in den Spiegel bei Jung und Alt für jede Menge Spaß sorgen. Zahnbürsten haben wir für alle genügend, leider fehlt Zahnpasta für jede Familie. Bei durchschnittlich 7 Kindern kommt man mit einer Probepackung nicht wirklich weit.
Während Nicolai und Fillippe behandeln, organisiert Anna die Apotheke. Wegen der Medikamentenspende der Deutschen Botschaft fordert das Gesundheitsministerium Boliviens eine Extraliste mit persönlichen Daten, Medikamentation und Unterschrift des Patienten. Vor allem Letzteres kostet Zeit und viel Stempelfarbe…. die Kleckserei beim Daumenabdruck sorgt auch wieder für jede Menge Gelächter.
Ich helfe Roman. Er hat als Angestellter des staatlichen Hospitals wieder den meisten Schreibkram. Bis zu 4 verschiedene Listen für ein und dieselbe Person, alles jeweils mit den Daten von Kind und Mutter, dazu Ausgabebelege! Aber auch hier gilt: Die Hilfe ist die den Nerv der Bürokratie allemal wert! Am schönsten sind natürlich die Momente, wenn ich für Neugeborene einen Impfpass, quasi ihr erstes offizielles Dokument ausstellen darf oder Dokumente wieder erkenne, die ich vor Jahren selbst ausgestellt habe.
Wir sind wirklich ein gutes Team, die Arbeit macht Spaß, wir lachen viel, wir kochen gemeinsam und am Abend bleibt sogar noch Energie zum Angeln. Dann hocken wir mit den Dorfbewohnern zusammen unterm tropischen Sternenhimmel und erzählen Geschichten. Es ist ein gutes Gefühl, hier zu sein!
Die Versorgungsfahrt in Fakten
Behandelte Patienten: 128
Zahnarztpatienten: 62
Ein großes Dankeschön an alle, die vor, während und nach der Tour im Einsatz waren. Ein großes Dankeschön für die gespendeten Medikamente und Zahnbürsten! Ein großes Dankeschön an alle Helfer und Spender in Deutschland, die unsere Arbeit überhaupt erst ermöglichen!
Ilka Sohr und Torsten Roder vom Team Regenzeit e.V.