Medizintour am Rio Beni Februar 2025
Abergläubige Zeitgenossen hätten die Tour wohl abgesagt…. Klar war die Tourvorbereitung aufregender als sonst. Obwohl Joselo sogar extra für zwei Tage nach Rurrenabaque gekommen ist, um zu helfen, vor allem beim administrativen Kram. Medikamente hatte er schon vorher bestellt. Per Bus sollte die Lieferung bis zum Wochenende da sein. Montag, den 4.3. wollen wir starten.
Über zwielichtige Kontakte hat Melvin genügend Benzin aufgetrieben. Zuvor hatte er unser Vereinsboot an Land generalüberholt. Lecks wurden abgedichtet, das Dach erneuert usw. Jetzt prangt „El bote de mi sueno“ in dicken weißen Lettern auf dem neuen grünen Anstrich. Natürlich haben wir „das Boot meiner Träume“ ordentlich gesegnet nach dem Stapellauf und Pacha Mama gedankt.

Unsere Freunde Pedro und Rosita sollen uns diesmal begleiten. Rosita als weltbeste Köchin und Pedro soll gemeinsam mit Torsten Joselos Part „an der Anmeldung“ übernehmen: Krankenblatt raussuchen, wiegen und Blutdruck messen. Ihr Heimatdorf San Jose de Uchapiamona liegt ziemlich isoliert im Madidinationalpark am Rio Tuichi, ist aber seit 3 Jahren über eine 35 km lange Schlammpiste mit der Hauptstraße verbunden. Funktioniert alles, dauert die Fahrt nach Rurrenabaque 4 Stunden. Damit Joselo Pedro alles erklären kann, wollen sie Samstag anreisen. Samstagabend erreichen uns erste Bilder. Starkregen hat Erdrutsche auf der 35 km langen Piste ausgelöst – kein Durchkommen. Da es unterwegs kein Netzt gibt, mussten sie erst zurück ins Dorf, um Bescheid geben zu können. Sie versuchen es gleich morgen früh wieder, vielleicht ja mit dem Motorrad…
Ok, ist ja noch Luft! Sonntag morgen – nächste Hiobsbotschaft – auch der Bus heute Morgen hatte keine Medikamentenlieferung dabei. Der Alternativbus steckt im Schlamm auf der Piste von La Paz fest. Dazu klingelt Doc Christian durch und vermeldet, dass der Rio Beni über Nacht stark gestiegen ist. Wir knattern mit dem Motorrad zum Hafen und finden Melvin übermüdet in unserem Boot. Tatsächlich stehen die graubraunen Fluten fast bis zur Kante. Melvin hatte sicherheitshalber sogar am Boot geschlafen. Die Nachrichten aus den Dörfern flussaufwärts am Oberlauf sind nicht ermutigend. „Alerta roja“ – Alarmstufe rot. Bis auf weiteres verbietet der Hafenkapitän jeglichen Bootsverkehr!

Pedro und Rosita haben es heute Morgen versucht und sind wieder umgekehrt. Neue Erdrutsche haben den Weg weiter verschüttet. Alles ist so aufgeweicht, dass ein Queren selbst zu Fuß lebensgefährlich ist. Zumal mangels Kommunikationsmöglichkeiten keiner weiß, wie viele Erdrutsche sie von der Hauptstraße trennen.
Am Sonntagabend steht fest, der Fluss steigt weiter. Montag können wir also auf keinen Fall starten! Ok – neue Chance für die Medikamente und Pedro….

Montagmorgen: Zumindest der Rio Beni hat ein Einsehen, bzw. stoppt Pacha Mama die Regenfälle in den Bergen. Der Scheitelpunkt ist durch. Der Bus aus La Paz hat sich über die Piste gekämpft und die fehlenden Medikamente sind angekommen. Bis zum Nachmittag ist alles registriert und in Kisten wasserdicht verpackt. Dann wird’s nochmal turbulent. Auch heute hatten Pedro und Rosita keine Chance, die Hauptstraße zu erreichen. Wir brauchen also sofort einen anderen Koch und einen „Joselo-Ersatz“. Koch geht schnell. Bis Corona war Rurrenabaque ja einer der Tourismus-Hotspots Boliviens. Aber für die Anmeldung brauchen wir jemanden der gut lesen und schreiben kann, auf Leute zu geht, viiiiiiel Geduld hat, robust genug für die Reiseumstände ist und nicht zuletzt ins Team passt. Und morgen um 8.00 Uhr muss diese Person reisefertig sein. …
Eigentlich haben wir kaum Hoffnung, dann fällt uns Hugo ein. Wir kennen ihn schon seit Jahren – ein Gute-Laune-Bär, hier geboren und aufgewachsen und zupacken kann er. Tatsächlich sagt er begeistert zu. Wir werden es nicht bereuen!
Wehe der blöde Fluss macht uns jetzt wieder einen Strich durch die Rechnung! Dienstagmorgen, 7.00 Uhr, rumpelt das Motokarro von Don Flores mit Medikamentenkisten, Verpflegung, unserer Camp- und Küchenausrüstung zum Hafen.
Der Hafenkapitän gibt grünes Licht – 9.15 Uhr pflügt die Bootsspitze bereits durch die gurgelnden Strudel des Suse-Canyon. Ab und an geht der Griff noch erschrocken zum Bootsrand, wenn der Motor plötzlich im Strudel - Abfluß nicht greift und das Boot ruckartig eindreht. Die Strömung ist noch immer stark und wir queren immer wieder, um der Hauptströmung zu entkommen. Zur Mittagszeit erreichen wir Charque. Sobald wir am sandigen Ufer anhalten, drückt die stickig heiße Luft, Sandfliegen stürzen sich auf uns und sofort läuft der Schweiß. Wie jedes Jahr bleibt die spannende Frage: Wie weit müssen wir laufen und wieviel Familien sind da? Wir schnappen uns eine Schubkarre, der Rest der Ausrüstung kommt auf die Schultern und wir marschieren los. Nach den Regenfällen warten einige Schlammlöcher und Rinnsale auf uns. Charque hat die komplette Comunidad in den letzten 2 Jahren auf hochwassersichereres Terrain verlegt. Näher an eine Hügelkette, welche im Ernstfall Schutz bietet. Welche im Ernstfall Schutz bietet. In der Schule wird tatsächlich noch fleißig gelernt. Sobald wir auftauchen, wird es für die 4 Lehrer schwer, die Bande im Zaum zu halten.
Während wir uns in einem der Klassenräume einrichten, bekommen die Kinder den Auftrag, nach Hause zu laufen und allen Bescheid zu geben. Definitiv werden alle von ihren Müttern nochmal ordentlich geschrubbt vor der Hütte. Es bleibt uns also Zeit. Der Erstkontakt war immer Joselos Domäne. Es wird es spannend für Hugo und Torsten. Charque ist groß. In dem letzten Jahre haben sich also hunderte Patientenblätter angesammelt. Die Namen setzen sich in den Bögen aus 1. dem Vaterfamiliennamen, 2. dem Mutterfamiliennamen und meist mehreren Vornamen zusammen. Sie sind in den dicken Heftern sogar nach Alphabet geordnet – zumindest am Anfang ;O))
Am einfachsten wäre es natürlich, wenn alle Ausweise besäßen und dabei hätten….

Ham se aber nich! - und es beginnt ein herrliches Durcheinander. Natürlich haben Mutter und Vater erstmal verschiedene Familiennamen und die Kinder dann die Namenskombi ihrer Eltern. Man muss also erst rauskriegen, was der Vatername ist, den verstehen, die richtige Schreibweise erahnen und dann geduldig suchen. Nach 15 Minuten hat „Team Caotico“ seinen Namen weg. Die Jungs schwitzen und der Rest des Teams amüsiert sich. Wir haben Mitleid und ersparen ihnen fürs erste das Blutdruck messen. Wiegen ist neben dem Datenabgleich vorerst aufregend genug. Leider hat Torsten irgendwann unbemerkt das Schreiben übernommen. Was dazu führt, dass der Rest des Teams Hieroglyphen enträtseln muss. Die Nachmittagssonne heizt das Blechdach auf, Schweißtropfen beißen in den Augen, vermischt mit Insektentötulin. Der Patientenstrom reißt nicht ab, aber unsere Jungs an der Anmeldung sorgen vor der Hütte für gute Stimmung. Sonia, unsere Zahnärztin, kämpft seit einer halben Stunde mit einem besonders hartnäckigen Backenzahn. Sie wechselt von der Sitz - in die Liegeposition (also der Patient natürlich), um besser hebeln zu können. Eine schmale Bank + umgekehrt genutztes Nackenkissen ersetzen den Zahnarztstuhl. Natürlich haben wir für alle Zahnbürsten und Zahnpaste dabei. Eine Mutter bittet uns, nach ihrer Tochter zu sehen. Sie hat gestern entbunden und ist noch zu schwach zum Laufen. Aber nach wie vor reißt der Patientenstrom nicht ab. So langsam ermahnt uns Melvin, denn wir müssen vor Sonnenuntergang noch bis Torewa Indigena kommen. Im letzten Jahr hat Charque quasi einen Quantensprung gemacht. Während früher das Wasser vom großen Rio Beni oder aus Regenwassertonnen kam, gibt es jetzt 3 Brunnen mit sauberem Wasser! Unsere Antiparasiten-Tabletten sind trotzdem noch notwendig. Beim Gang zur Wöchnerin entdecken wir kleine Gemüsegärten zwischen einigen der Bretterhütten. Da Wellblech günstiger und haltbarer ist als ein Palmblattdach, betreten wir gefühlt einen Backofen. Im diffus düsteren Licht erkennen wir schemenhaft die junge Mutter unterm Moskitonetz auf einer einfachen Bretterplattform. Erstmal müssen wir ein paar Hühner aufscheuchen, die es sich um die Feuerstelle mit zwei klapperdürren Hunden gemütlich gemacht haben. Aber die Decken auf der Bettstatt sind sauber und das Baby ist fest in saubere Tücher eingepackt. Um seinen Hals hängen Samen und das winzige Gesicht ist mit Bi, einem Pflanzenextrakt geschwärzt – alles zum Schutz vor bösen Geistern. Doc Christian checkt zuerst die junge Mutter (15 Jahre) und dann das winzige Menschlein gründlich durch. Alles ist bestens! Wir geben der jungen Frau etwas zur Stärkung und um den Blutverlust während der Geburt zu kompensieren. Sie fragt uns, ob wir Impfungen für den Erstschutz dabeihaben. So ein Mist, jetzt ist der Impfschutz so gut anerkannt und das Hospital wollte uns wieder keinen Impfer mitgeben! Angeblich war der junge Mann zu schwach zum Reisen und die Frau plötzlich schwanger…. Über sechzig Patienten stehen am Ende auf unserer Liste. Zufrieden und groggy packen wir zusammen, schleppen alles zum Boot und freuen uns auf kühlenden Fahrtwind. Wir haben fast nur Frauen und Kinder und so gut wie keine Männer behandelt. Die sind Goldwaschen am Fluss – keine guten Nachrichten.
Links und rechts ziehen steile Hügel überzogen mit immergrünem Regenwald an uns vorbei. Man sieht die Narben und verkohlte Überreste der verheerenden Brände vom letzten Jahr mitunter noch, aber das Grün ist schon zurück. Wie jedes Jahr hoffen wir darauf, in Torewa Indigena zu übernachten! Melvin ist sich sicher, dass die zwei Nebenflüsschen so viel Wasser führen, dass wir reinfahren können. Die Beziehung zwischen Torewa Indigena und Torewa Campesina (etwas weiter flussabwärts) ist schon immer konfliktbehaftet. Eine Woche vor unserem Start ist der Konflikt eskaliert. Versionen gibt es viele …. Erst war nur von einem eskalierten Diebstahl die Rede. Aber laut Beschuldigtem haben die Chefs von Torewa Campesino junge Tsimane aus dem Dorf angestachelt, Familien aus Torewa Indigena, welche am Ufer des Benizuflusses Rio Hondo ihre Hütten und Felder haben, zu verjagen. „Und wenn sie nicht gehen, bringt ihr sie eben um!“ Tatsächlich gab es am Ende einen Mord. Zahnärztin Sonia, die aus Torewa stammt, war völlig fertig. Die Fronten sind verhärtet. Angst geht um, dass es weiter eskaliert. Inzwischen weiß man, es geht um Gold. Weshalb der Vorfall nun auch vor einer Komission der europäischen Union gelandet ist, welche Indigene beim Kampf gegen illegalen Raubbau durch Goldsucher unterstützt.
Wir werden trotzdem in beiden Comunidades behandeln. Schließlich geht es uns um die Menschen. Die brauchen unsre und eure Hilfe!
Ein bisschen mulmig ist uns trotzdem, als wir optimistisch zu Einmündung des Flüsschens tuckern. Erst sind wir froh, als wir Männer an Booten ausmachen. Dann wird schnell klar, die Boote liegen dort, weil kein Reinkommen ist. Das Wasser ist zu flach! Mal wieder hatten wir uns die Übernachtung in T.Indigena so schön ausgemalt – komfortabel die Zelte unter das offene Schutzdach des Sede (Versammlungsplatz des Dorfes) stellen. Ein kleines klares Flüsschen zum Waschen in 300m Entfernung. Lorenzo, einer der Männer sagt, wir sollen ein Stück flussabwärts fahren und dort anlegen, wo ein breiter Weg am Ufer endet. Sie holen uns und unser Zeug dann mit einem Motocarro (Motorrad mit Ladefläche) ab. Allerdings wird es bald dunkel und wir wollen auch nicht, dass Melwin allein am Boot schlafen muss. Das Dorf ist zu Fuß gut eine Stunde Fußmarsch entfernt. Er lässt das Boot auf keinen Fall allein. Zudem glauben wir nicht, dass das Gefährt heute noch kommt. Kurzerhand entscheiden wir uns für ein Dschungelcamp am großen Fluss. Für die weniger dichten Zelte und das Material spannen wir eine Plane. Mit der Machete schlagen wir Haltestangen und machen den Boden frei. Die restlichen Zelte suchen sich Platz rundherum zwischen den Bäumen. Zum Glück haben wir in La Paz 4 neue Zelte fürs Team gekauft. Brolio macht sich sofort ans Kochen, während wir bauen. Als wir mit unseren Tellern auf den Knien zufrieden auf Kisten und Brettern sitzen, ist es bereits stockdunkel. Aber alle sind glücklich und es gibt natürlich jede Menge zu erzählen. Am Morgen werden wir tatsächlich vom Motorengeräusch geweckt. Über dem Fluss liegt Nebel und es ist noch fast angenehm kühl. Begeistert laden wir erstmal alles medizinische Equipment auf den Karren. Wenn wir nix schleppen müssen, schaffen wir den Weg auch in 45 Minuten. Nach dem Frühstück stapfen wir los.

Nach hundert Metern kehrt das Knattern zurück und löst Jubelschreie aus. Begeistert von so viel Engagement klettern wir auf die Ladefläche und ab geht eine wilde Fahrt durch Bananenhaine, Wald und etliche Schlammpassagen bis zum Flüsschen. Den Rest laufen wir gerne. So können wir nämlich noch Pampelmusen und andere Früchte naschen. An der Schule machen wir kurz halt und verabreden uns mit den Lehrern in einer halben Stunde zur Zahnputzcampagne. Geschwind sortieren wir unsere Ausrüstung. Dann kommen auch schon die ersten Polonaisen der Primaria über den Grasweg angeschlängelt. Eigentlich sollten sie wirkllich alle ihren Vordermann an den Schultern fassen, aber die Lehrer sind zu langsam. Die Teenager der Secundaria schlendern standesgemäß lässig hinterher.
Zuerst gibt’s für alle eine halbe Zahnfärbetablette und kurz darauf erstrahlen ringsum rosarote bis blitzblaue Münder. Sonia geht mit unserem Spiegel herum. Mit einem Modellgebiss erklärt sie das Putzen während wir Zahnbürsten und Zahncreme verteilen. Dann wird mehr oder weniger gründlich geputzt. Bei den Kleinsten der Pre-escuela müssen wir mithelfen. Zum Glück gibt es sauberes Regenwasser, bisher mussten wir das Wasser zum Gurgeln mitbringen. Alle Kinder bis 12 Jahre erhalten noch eine Fluorbehandlung von Sonia. Nach den obligatorischen Klassenfotos bekommen alle die Bilder vom letzten Jahr und das Chaos ist perfekt. Die Lehrerschaft hat Mühe, den aufgeregten Haufen wieder in die Klassenräume zu scheuchen. Anschließend wird es erstmal "offiziell". Die Zwischenzeit nutzt Dirigente Don Lorenzo gemeinsam mit dem Gesundheitsverantwortlichen der Comunidad und einigen Männern, um uns für unsere reglmäßigen Besuche zu danken. Gerne würden sie auch unseren Zusatzvertrag über Zahnbehandlungen in Rurre und den Zahnersatz erneuern. Zu komplizierte bzw. gefährliche Eingriffe führt Sonia in ihrer kleinen Praxis in Rurre für Gemeindemitglieder dank euer Spenden kostenlos durch. Um nachhaltiger zu behandeln, haben wir auch das Thema Zahnersatz letztes Jahr einbezogen. Es gibt einen Festpreis pro Zahn. Die Hälfte der Kosten trägt das Projekt Regenzeit. Die Vereinbarung hat super funktioniert. Nur zu gern stimmen wir zu. Da sich auch in Bolivien die Preise erhöht haben, müssen wir das Jahresbudget erhöhen. Zudem wünscht sich die Gemeinde eine Notfallausrüstung für erste Hilfe. Wir verabreden uns in Rurrenabaque, um die Verträge zu unterzeichnen. Dann verabschieden sich die Männer. Sie müssen zum Fluss, um Gold zu waschen. Hier also auch! Wir verscheuchen die schlimmen Vorahnungen und konzentrieren uns auf die Patienten. Heute funktioniert unser „equipo caotico“ schon wesentlich besser. Also bekommen sie auch das Blutdruckmessen mit aufgebrummt. Allerdings haben sie bereits bei der zweiten Familie Pech. Ein kleiner Junge fürchtet sich so sehr vor der Waage, dass er in Tränen ausbricht und seine Geschwister ansteckt. Was wiederum in einem hysterischen Gebrüll ausartet. Sonia tauft Torsten und Hugo deshalb sofort in „equipo traumatico“ um. Der Kleine ist wegen der Personenwaage so traumatisiert, dass er seine Mutter nicht loslassen will. So liegt er noch auf ihrem Bauch, während sie sich in Rückenlage von Sonia einen schlimmen Backenzahn ziehen lässt.
Wir behandeln durchgehend bis zum Nachmittag. Glücklicherweise gibt es keine gravierenden Notfälle. Der Unterarmbruch eines Mädchens ist bereits am Abheilen und so gut mit einem Korsett aus dünnen Zweigen und Stricken geschient, dass Doc Christian lieber nicht dran rührt. Das Dorf ist gut organisiert. Immer ist jemand da, um zu übersetzen. Viele können lesen, was die Medikamentation enorm erleichtert. Sonia nimmt sogar Gebiss-Abdrücke, damit sie nach der Rückkehr schon vorarbeiten kann. 16.30 Uhr packen wir zusammen und hoffen, dass uns wieder ein guter Geist zum Dschungelcamp am Fluss chauffiert. Die Hitze unterm Blechdach, die Sandfliegen – wir sind groggy. Die Männer halten Wort und am Flüsschen steht schon das Motocarro bereit. Auch unsere Medikamentenkisten bringt man uns später nach. Und dass, obwohl Benzin hier noch viel wertvoller und knapper ist als in Rurre, wo es gekauft werden muss.
Bei Kerzenschein löffeln wir unser Abendessen. Es wird kurz hektisch als hinter Torstens Rücken am Baumstamm eine Buna, also eine „24 Stundenameise" auftaucht. Ihr Stich brennt 24 Stunden und strahlt aus. Es bleibt auch nicht bei der einen. Kurzer Macheteneinsatz, weiter essen. Obwohl es in der Ferne grummelt, bleibt die Nacht trocken.
Am Morgen packen wir zusammen, bauen Plane und Zelte ab. Eine halbe Stunde flussabwärts legen wir bereits bei Torewa Campesino an. 20 Minuten Fußweg – aber wir brauchen ja nur die Sachen für die Behandlung und sauberes Wasser für die Zahnputzkampagne und die Medikamente mitschleppen. Viele Hände schnelles Ende. Auch hier nutzen wir den Sede, das Versammlungsschutzdach. Die erste positive Überraschung: Es findet Unterricht statt! Letztes Jahr waren die Lehrerinnen noch nicht eingetroffen, obwohl das Schuljahr seit einem Monat lief…. Aus Brettern und Baumstümpfen improvisieren wir noch ein paar Bänke. Jemand bringt einen Tisch und wir können loslegen. Erst Zahnputzschule, dann sollen die Kinder zu ihren Häusern laufen und allen Familien Bescheid geben. Die Hütten stehen hier noch weiter verstreut. Anhand der Patientenakten fällt uns zunächst auf, dass einige der wartenden Familien gar nicht hier wohnen. Beim Verschenken der Fotos vom letzten Jahr wiederum vermissen wir so einige Familien. Der Grund – wir ahnen es schon – GOLD! Die einen sind nach Torewa gekommen, um Gold zu waschen. Die anderen kommen nicht zur Sprechstunde, weil die Eltern samt Kinderschar am Flussufer arbeiten. Ändern können wir daran nichts. Sie wissen, dass wir da sind. Da wir rechtzeitig aufbrechen müssen, um sicher bis Asuncion am Quiquibey Fluss zu kommen, können wir auch nicht unendlich warten. Wir alle machen uns Sorgen. Die katastrophalen Folgen für die Umwelt und Gesundheit sind das eine. Zu dem Thema gibt es eine sehenswerte Dokumentation in der Arte-Mediathek: https://www.arte.tv/de/videos/120689-000-A/bolivien-verfluchtes-gold/
Ein paar der Protagonisten stammen aus den Dörfern, in welchen wir behandeln.
Soziale Konflikte brechen als Folge des Goldrausches auf – der Mord war bereits ein Alarmzeichen. Felder werden nicht mehr bestellt. Aber wir können endlos diskutieren, solange wir keine Alternative bieten können. Am Ende wollen alle einfach nur leben….

In den 2 Stunden Bootsfahrt nach Asuncion sehen wir überall am Ufer des Rio Beni Menschen im Dreck wühlen. Zum Glück lenken uns die roten Fluten des Rio Quiquibey vom Thema ab. Am Quiquibey gibt es kein Gold – sagt man….
Der Wasserstand ist gut. Ohne zu schieben, kommen wir bis Asuncion del Quiquibey, dem größten Ort am Fluss. Wieder hat sich der Fluss weitere Häuser des Dorfes geholt. Die dritte Schule steht bereits nahe am Abgrund. Und nichts kann den Fluss aufhalten. Schon wegen der Gefahr müssen wir das komplette Equipment ausladen. Die Schlepperei das fast 20 Meter hohe, steile Sandufer hinauf ist schweißtreibend. Der Sand ist lose – zwei Schritt vor – einer zurück. Christian war hier 2 Jahre als Arzt stationiert. Er macht sich auf die Suche nach dem Cazique, um zu fragen, wo wir unsere Zelte aufstellen können. Hoffentlich nicht zu weit weg vom Ufer. Wir bekommen eine zweistöckige Hütte zugewiesen. Der offene untere Bereich ist mit einer niedrigen Bretterbarrikade rund rum gegen neugierige Schweine, Hunde und Hühner geschützt. Dort bauen wir auf und richten die Kochstelle ein. Es gibt eine Toilette und Duschwasser!!! Da Asuncion eine feste Ärztin bekommen hat, werden wir morgen früh nur die Zahnprävention mit allen Schülern machen und Sonia wird zahnärztliche Notfälle behandeln. Erstmal sind alle verrückt nach der Dusche! Ruckzuck ist es dunkel. Schon während des Essens beginnt das Donnergrollen um uns herum. Wir sind froh, nicht mehr im Dschungelcamp am Fluss unter einer Plane, sondern unterm Hüttendach zu hocken. Melvin verabschiedet sich gegen halb 10.00 Uhr. Das bröckelige Steilufer, die nahenden Gewitter, der Regen in den Bergen oberhalb – das alles ist ihm nicht geheuer. Er will lieber zum Boot. Hugo begleitet ihn. Wir kriechen eine Stunde später in unsere Zelte. Kurz danach entladen sich die Wolken. Mit Oropax wird das Draaschen zu einem angenehmen Hintergrundrauschen. 1.30 Uhr schrecke ich hoch. Melvin leuchtet mit der Taschenlampe in unser Zelt und ist völlig aufgewühlt und schreit. Eigentlich möchte er Tortes sehr helle Taschenlampe. Aber der hört noch nix. Ich reiche ihm meine Lampe und verstehe, dass der Fluss steigt und Erdrutsche das Boot zu begraben drohen. Und außerdem stünden unsere Zelte in einem See…. Jetzt sind alle hellwach. Broli, unser Koch, springt auf und geht mit zum Boot. Sonia und ich müssen feststellen – unsere Zelte stehen wirklich in einem Stausee. Torte will beim Boot helfen. Doc Christian schnarcht noch, als Sonia und ich schon versuchen Schlafsäcke, Klamotten, Isomatten zu retten, bzw. das Wasser irgendwie abzuleiten. Hinter der fantastischen Barrikade hat es sich schön aufgestaut nach 2h Dauerwolkenbruch. Seit 2 h gewittert es unvermindert. Wir versuchen, die Brühe mit einem Besen zur „Tür“ raus von den Zelten weg zu kehren. Die neuen haben von unten dichtgehalten. Unsere aufblasbaren Isomatten sind so hoch, dass wir das Wasser nicht gespürt haben. Die zwei alten Zelte sind geflutet. Melvin, Hugo und Broli bleiben den Rest der Nacht am Boot, während wir verstört wieder in die Zelte kriechen. Beim Frühstück werden die Ereignisse der Nacht von Melwin und Hugo in etwa so zusammengefasst:
22.00 Uhr war noch alles gut. Melvin hatte unser Boot schon vorher etwas flussaufwärts angebunden, um es aus der Erdrutsch Gefahrenzone zu bringen. Das Boot war neben anderen an einem tief in den Sand gerammten Metallstab angeknotet. Mitternacht gingen die ersten Erdrutsche ab. Durch den Gewitterlärm und den Starkregen, hat man das im Boot nicht wahrgenommen. Dann begann der Fluss rasant zu steigen. Die Metallstange bot keinen Halt mehr und eine der Taschenlampen war ausgefallen. Also sollte Hugo zu uns laufen und Tortes Taschenlampe und ein paar Männer aus dem Dorf zum Helfen holen, während Melwin die Boote sichert. Als Hugo die Böschung hochsteigen wollte, waren sämtliche Wege nach oben verschüttet. Melvin brüllte ihm zu, dass er sich ausziehen sollte und auf allen vieren nach oben krabbeln. Das hat Hugo aber wegen des Lärmes nicht verstanden. Am Ende saß Hugo im Stockdunkeln mutterseelenalleine an die Metallstange geklammert die 5 Boote haltend am Flussufer, umringt von prasselndem Regen und Blitzen. Melvin ist irgendwie in Schlüppern die abgerutschte Böschung hochgekrabbelt und stand dann vor unserem Zelt… Am nächsten Morgen fehlen wieder ein paar Meter mehr vom Dorf. Hugo und Melwin haben 5 Boote einschließlich unserem retten können und unsere Zahnkampagne findet vor der Schule sehr nah am Abgrund statt. Das Rad des Lebens dreht sich weiter!
Embocada del Quiquibey kurz unterhalb der Mündung in den Beni wird unsere letzte Station auf dieser Tour. Die Sonne scheint am fast wolkenfreien Himmel. Doch nach dem Regen der letzten Nacht wird es spannend. Ca. 35 Minuten Marsch liegen vor uns. Schubkarren helfen uns nicht. Die Hälfte der Strecke ist zur Regenzeit dauerüberflutet und wird mit Plankenwegen in 1-1,5m Höhe überbrückt. Manchmal ist es ein breites Brett, manchmal sind’s 2 schmale, schön schwingende Planken nebeneinander. Wir balancieren die Medikamentenkisten auf dem Kopf und wechseln uns ab. Der restliche Weg besteht aus Schlamm oder Riesenpfützen. Der Erfinder der Gummistiefel sei gepriesen.
Vor Jahren schon sind die Dörfler vor den Launen des Rio Beni auf eine Anhöhe geflüchtet – Zu Recht. Die Comunidad entwickelt sich immer weiter. Mehrere Wasserhähne zeigen an, dass die Trinkwasserleitung inzwischen installiert ist. Wir streben zum neuerrichteten Klassenzimmer aus Ziegelsteinen. Viele Familien scheinen nicht da zu sein. Der stellvertretende Dorf Chef begrüßt uns und macht sich auf die Suche nach dem Schlüssel für die Schule. Vergebens – entweder der Lehrer oder der Casique hat ihn mitgenommen. Was solls, aus zwei Brettern und Ziegelsteinen improvisieren wir vor der Schule zwei Bänke. Eine dient Sonia als Zahnarztliege. Die andere Christian und mir als Sprechzimmer. Der Rest arbeitet auf dem Fußboden.
Die erste Familie – Patrona, eine Mutter mit 11 Kindern – beschäftigt nicht nur unser „team caotico“ ewig. Ausweise haben nur 5 von 12. Das Zuordnen ist schon schwierig und das Rauskriegen der anderen Namen, um die Patientenblätter rauszusuchen, zieht sich ewig, obwohl alle anwesenden Frauen mithelfen. Die 13-jährige Tochter ist im 7.Monat schwanger. Sie sieht noch so kindlich aus. Der Vater soll einer der jungen Männer sein, die die Wasserleitung gebaut hatten. Die Mutter weiß es nicht so genau und die Schwangerschaft der Tochter hat zuerst eine Nachbarin bemerkt. Die viel zu junge werdende Mutter wirkt verängstigt und eingeschüchtert. Die aufmerksame Nachbarin erzählt uns, dass sich das Kind trotz aller Bemühungen nicht bewegt. Wir beschließen, erstmal alle anderen zu behandeln und sie danach in einer der Hütten im Liegen nochmal genauer zu untersuchen mit etwas mehr Ruhe. Nun schaut sie uns mit ängstlich aufgerissenen Augen auf einer Decke liegend an. Wir haben die Nachbarin dazu gebeten. Ihre Mutter Petrona ist mit dem Stillen des 11. Kinds und dem Zähmen der restlichen quirligen Kinderschar vollends überfordert und kann uns gar nicht zuhören. Doc Christian geht behutsam vor und erklärt alles. Als die Kleine zum ersten Mal die Herztöne ihres Babys hören kann über das Stethoskop, lächelt sie zu ersten Mal. Chris massiert und untersucht ihren Bauch und dann strampelt das Kleine zum ersten Mal. Jetzt strahlen die Augen und das ganze Gesicht. Sie sieht so glücklich aus und ist noch so schmal. Schwanger wurde sie mit 12! Sie hat überhaupt nicht gewusst, was mit ihr passierte. Uns krampft sich der Magen zusammen. Fast mantraartig ermahnt Doc Christian am Ende Mutter und Nachbarin unbedingt mit der Tochter zur Entbindung ins Hospital nach Rurre zu fahren. Der junge Körper ist nicht bereit für eine Geburt.
Auf dem Rückweg zum Team, fassen wir einen Entschluss. Zur nächsten Tour am Quiquibey werden wir wieder mehr über Verhütung sprechen. Vielleicht können wir ja die Lehrer für gemeinsame Aufklärungsgespräche mit den Schülern gewinnen. Natürlich Mädels und Jungs getrennt und nur mit Erlaubnis der Familie! Dazu werden wir wieder Dreimonatsspritzen zur Verhütung für jede Reise kaufen. Jede Geburt zehrt an der Mutter. 6-7 Kinder sind normal, eher mehr. In den Dörfern haben wir wieder einige unterernährte völlig dehydrierte Säuglinge gesehen, weil die Mütter selbst zu schwach sind, ausreichend Muttermilch zu produzieren. Wir werden sensibel vorgehen. Aber tatsächlich wurden wir von einigen Frauen während der Reise sogar danach gefragt.
Auf dem Weg zurück zum Boot sind die wackeligen Planken nach einem Regenguss ordentlich glitschig. Kurzer Hand tauft Doc Christian unser Team in „equipo brutal – medicos sin limite“ um… DMAX lässt grüßen ;O))
In 4 Tagen haben wir ca. 150 Flusskilometer zurückgelegt, über 200 Patienten behandelt, um die 400 Zahnbürsten verteilt und die Medikamentenkisten sind fast leer. Melvin, Hugo und Brolin haben 5 Boote, einschließlich unseres Vereinsbootes, nebst Motoren gerettet! Das Team hat super Arbeit geleistet und trotzdem haben wir oft an Joselo gedacht. Wir hoffen, dass er im Juli wieder dabei sein kann! Die nächsten Tage wird ganz Bolivien erstmal durch den Karneval lahmgelegt. Also wird Morgen erstmal das Material geputzt, gewaschen und getrocknet. Bestands- und Bestelllisten müssen erstellt werden, Kassenzettel (so vorhanden) geklebt und abgerechnet werden. Die nächste Medizintour an den Quiquibey ist für den 11.-15.3. geplant, dann mit Verstärkung aus Leipzig und Hanau.
Vielen Dank ans bolivianische Team und natürlich an alle zu Hause, die uns unterstützen! Hasta pronto!