Medizinische Hilfe Rio Quiquibey 2007
Unter dem Palmendach scheint die Luft zu stehen, die Haut ist schweißnass, Myriaden winziger Stechfliegen machen Stillhalten zur Qual. Aber wir müssen! Rosa ist gerade mal vier Jahre alt. Ein Falter hat seine Eier ausgerechnet in ihrer Kopfhaut abgelegt. Ihr kleiner Körper bemüht sich den Fremdkörper abzustoßen, so ist an ihrem Hinterkopf bereits ein faustgroßer Abszess gewachsen. Die Mutter hält die Kleine im Arm, während Tim ohne Narkose den ersten Schnitt setzt. Ich fixiere die winzigen Hände, welche immer wieder in Richtung Kopf zucken und murmle beruhigende Worte in allen möglichen Sprachen - medizinische Versorgung im Dschungel.
Nachdem im letzten Jahr in unserem kleinen Schlauchkanadier nur ein paar Basismedikamente als Spende für die Komunidades am Quiquibey-Fluss Platz fanden, wollten wir unbedingt zurückkehren. Gemeinsam mit dem Verein "Medizinische Hilfe Bolivien" organisierten wir eine zweite Flussfahrt. Vor der Praxis kommt bekanntlich die Theorie. Da gilt es Genehmigungen einzuholen, Zuständigkeiten und Befindlichkeiten abzuklären und vor allem geduldig unzähligen Reuniones (Versammlungen mit vielen, vielen Wortmeldungen) beizuwohnen. Erschwerend kam hinzu, dass die sieben Dörfer am Ququibey verwaltungstechnisch vier verschiedenen Bezirken angehören. Die Bezirkskrankenhäuser sind zwar per Gesetzt verpflichtet, alle Komunidades (notfalls durch Besuche) medizinisch zu versorgen. Praktisch werden die meisten Dörfer nicht versorgt, weil die zuständigen Bezirkshauptstädte mit den einzigen Krankenhäusern quasi am anderen Ende des Dschungels liegen. Wir sind als private Initiative mehr als willkommen. Der Quiquibey-Fluss liegt im Biosphärenreservat Pilon Lajas. Sein Direktor sagt uns ein Boot samt Motorista und zwei Parkwächtern zu, welche die Sprache der Motsetene und Tsimane sprechen. Das Land im Reservat selbst gehört nach wie vor den Indigenas. Der Präsident ihrer Dachorganisation TCO sagt ebenfalls Unterstützung zu. Tim von der "Medizinischen Hilfe Bolivien" wird uns mit zwei Ärzten seiner Foundation begleiten. Andy, der Allgemeinarzt ist direkt beim bolivianischen Gegenstück des Vereins angestellt. Jose Manuel, ein erfahrener Zahnarzt, wird vom Projekt Regenzeit e.V. bezahlt.
Das Krankenhaus Rurrenabaque gibt uns für "seine" Dörfer eine Krankenschwester plus entsprechende Impfstoffe und SUMI- Medikamente mit. Im Rahmen des SUMI-Programms ist für alle Kinder bis 5 Jahren und Schwangere/Mütter bis sechs Monate nach der Geburt die medizinische Behandlung (einschließlich Medikamenten) kostenlos.
Komplettiert wird unser Team durch Ulli und Andre vom MDR Fernsehen. Sie sollen unsere Arbeit und den Verbleib der Spendengelder vor Ort dokumentieren.
Doch selbst wenn man noch so gut vorbereitet ist - wir benötigen für die Tour etwa 270 l Treibstoff. Leider bemerken wir erst beim Einfüllen, das unser 200 l Stahlfass das ein oder andere Rostloch hat - also alles umfüllen in kleine Kanister und Colaflaschen und ein neues Fass organisieren. Das Boot der Pilon Lajas Parkwächter hat ebenfalls mehrere Lecks. Man legt uns nahe, einer solle unbedingt auf dem Boot schlafen und regelmäßig Wasser schöpfen. Vollbeladen würde der Kahn sonst zu schnell voll laufen.
Endlich sind der Proviant für zehn Tage, sämtliche medizinische Ausrüstung, die Medikamente, Moskitonetze und Plastikplanen für das Nachtlager verladen. Die Wolken hängen tief über der Bala-Enge, Mörderstrudel mit zehn Metern Durchmesser gurgeln in den schlammigen Fluten des Beniflusses. Nach zwei Stunden erreichen wir die Mündung des Quiquibey.
Er ist schmaler, die grün überwucherten Ufer kommen näher, Affen lärmen im Geäst, Aras krächzen in den Bäumen und auf einer Sandbank verlässt gerade ein Faultier den Fluss. In der Dämmerung schlagen wir nach weiteren sechs Stunden flussaufwärts unser Camp auf einer Sandbank auf. Am nächsten Mittag werden wir Bolson, die oberste Kommunidad, erreichen.
Unseren Motor haben die Menschen natürlich längst gehört. Zuerst gehen nur zwei, drei Leute an Land, um dem Dorfältesten unser Anliegen zu präsentieren, eine Foto- und Drehgenehmigung einzuholen. Sofort stehen Helfer zum Ausladen bereit.
Inzwischen ist das ganze Dorf versammelt und nach einer kurzen Rede beginnt die Behandlung. Das kleine Flüsschen in Dorfnähe führt zur Regenzeit eine traurig trübe Brühe, außerdem gibt es keine separaten Stellen für Trinkwasserentnahme, Wasch- oder Toilettenplatz. Also kämpft Andy, unser Allgemeinarzt, gegen Windmühlen wenn er Medikamente gegen Parasiten und Durchfall verteilt. Alle Kinder leiden unter Wurmbefall. Eigentlich müsste man zuerst die Ursachen bekämpfen(z.B. Toilettengrube ausheben in sicherer Entfernung zum Trinkwasserfluss), damit die Medikamentengabe auch nachhaltig wird. Vor allem die Kleinkinder können die Millionen kleiner stechender Insekten kaum abwehren, deshalb leiden sie permanent unter entzündeten Schleimhäuten und grausam infizierten Einstichen. Am härtesten ist für uns immer das Öffnen größerer Abszesse, wie oben beschrieben. Die Erwachsenen leiden neben den Folgen der schweren Arbeit im Chaco häufig unter Pilzbefall. Zweimal treffen wir auf Tuberkulose bzw. Tuberkuloseverdacht, Leishmaniase ("weiße Lepra"). Beklemmend sind Situationen, in denen Andy zwar eine genaue Diagnose stellen, aber unter den gegeben Umständen nichts dagegen tun kann - die Folge: der baldige Tod bei der kleinsten Anstrengung. "In Deutschland würde man jetzt operieren und..." ein Satz, den wir schon nicht mehr hören können. Der Arzt arbeitet Hand in Hand mit der Krankenschwester des Hospitals. Sie impft, verteilt Medikamente und prüft das Gewicht der Kinder. Dabei werden die Zwerge in eine Art Hosenschaukel gesteckt und samt der Waage nach oben gehievt, wie Gemüse eben. Das führt zumindest bei den Großen zur allgemeinen Erheiterung. Überhaupt sind die Geduld und die Leidensfähigkeit der Menschen unglaublich. Man stelle sich nur mal unser Gehabe vorm Zahn arztbesuch vor! Den Kopf an den Eckpfeiler eines Schutzdaches gelehnt beginnt die Behandlung, will heißen Zähne ziehen und Wurzelentfernungen! Jose Manuel benutzt zwar immer Narkosespritzen, aber jeder hat ja so seine Erfahrungen mit Wurzelbehandlungen. Torsten und ich dokumentieren abwechselnd, reinigen die Instrumente, assistieren auch schon mal als Lampenhalter oder "Mundöffner". Wir sind froh, mit anpacken zu dürfen, denn Arbeit und Kamera schaffen eine gewisse Distanz. Das Letzte, was den Menschen hier helfen würde, wäre Mitleid oder Betroffenheit. Mit Bert und dem Kameradisplay ist das Eis schnell gebrochen. Dutzende brauner Kulleraugen drängen sich vor dem Kameraobjektiv. Wir lachen gemeinsam mit den Dorfbewohnern über die "schauspielerischen Qualitäten".
Gemeinsam mit der "Medizinischen Hilfe Bolivien" werden wir Ende Mai eine nächste Visite finanzieren, mit den gleichen Ärzten. Das Medikamentensortiment wird noch besser angepasst. Da während der Trockenzeit ein Teil der Dörfer nicht mehr erreichbar ist, wollen wir versuchen, regelmäßig drei bis viermal jährlich wirklich alle Häuser (insgesamt ca. 350 Personen) am Quiquibey-Fluss zu besuchen. Unser Projekt beteiligt sich dabei an den Kosten für Medikamente, Ärztehonorar, Verpflegung und Treibstoff. Im nächsten Januar werden wir dann selbst wieder mitfahren.
Statistik:
· ca. 140 Impfungen
· ca. 120 allgemein-med. Behandlungen
· ca. 70 gezogene Zähne
finanzielle Beteiligung Projekt Regenzeit e.V.: 1000 Euro